Schaut man mit diesem Blick genauer nach, so erkennt man z.B. in Tagebüchern von Unternehmern, dass vielfach die Vision erst nachträglich in die Welt getragen oder völlig verwaschene Ursprungsideen nachträglich so umformuliert wurden, dass sie zu dem Erreichten passen. Das ist auch der methodische Fehler von Napoleon Hill: 500 Leute befragt zu haben, die bereits erfolgreich waren. Aber mal ehrlich: Wissen Sie im Detail, wie sie vor 20 oder gar 40 Jahren dachten? Und falls Sie es wissen: Wie sicher sind Sie, dass dies keine nachträgliche Neuinterpretation ist? (Ich habe da selbst schon beim Lesen meiner 20 Jahre alten Tagebücher verblüffende Überraschungen erlebt).
Der Haken der Planlosigkeit
Nun sind das einzelne klare Beispiele, bei denen die Unternehmensentwicklung auch ohne langfristige Ziele/Visionen funktioniert hat. In der weitaus größeren Zahl der Fälle funktioniert sie nicht. In Unternehmen ohne langfristige Visionen gibt es fast immer folgende 7 Probleme, die in wirtschaftlich guten Zeiten zu einer halb schwarzen, halb roten Null und in wirtschaftlich schlechten Zeiten zur Pleite führen:
Diese Probleme (mit Ausnahme des Gefühls der Sinnlosigkeit) habe ich bei den Erfolgsfällen ohne Vision nirgends gefunden. Offensichtlich haben sie also etwas anders gemacht. Was aber ist genau der Unterschied zwischen den Fällen, in denen die Visionslosigkeit funktioniert und den Fällen, wo sie nicht funktioniert?
Eine Anleihe aus dem Software-Projektmanagement
Der Aufbau eines Unternehmens ist ein Langfristprojekt. Deshalb sind Anleihen aus dem Bereich des Software-Projektmanagements interessant. Das Gemeinsame von langfristigen Softwareprojekten und dem Unternehmensaufbau ist, dass es fast nie funktioniert. Früher (und auch in vielen Bereichen noch heute) wurden Softwareprojekte mit aufwändigen Planungsverfahren vorbereitet. Man versuchte bis ins letzte Detail zu erfassen, was die Anforderungen ans System sind und dies in umfangreichen Lasten- und Pflichtenheften zu definieren. In manchen Fällen war das Planungsverfahren aufwändiger als die eigentliche Software-Entwicklung. Die Vorteile liegen auf der Hand: Man erlebt kurz vor dem Projektabschluss seltener böse Überraschungen. Die Nachteile hingegen sind: Das System ist unflexibel und setzt bei allen Beteiligten voraus, sich auf eine extrem abstrakte detailorientierte Weise mit der Zukunft auseinandersetzen zu können. Zudem ändern sich – durch Gesetze, neue Erkenntnisse und Arbeitsmethoden sowie neue Kundenwünsche pro Monat zwischen 1,5 und 4 Prozent der Anforderungen. Bei einem Projekt, das über etwa ein Jahr geht, heißt das, dass 20-50 Prozent der Planung für den Mülleimer war.
Vor diesem Hintergrund wurden in den 90er Jahren und Anfang dieses Jahrtausends neue „leichtgewichtige“ Planungsverfahren entwickelt. Ein bekannter Vertreter davon ist das „Extreme Programming“. Dieses zeichnet sich durch eine Vielzahl superkurzer Planungszyklen (2 bis 4 Wochen) und einige grundlegende Regeln aus. Mit anderen Worten: Es wird im Vorfeld kein detaillierter Plan gemacht, was die Software irgendwann können muss. Wodurch zeichnen sich diese Verfahren aus?
Das heißt, und das ist das Interessante daran, dass die Programmierung zwar ohne einen langfristigen Plan, dafür jedoch mit klaren Regeln, die äußerst diszipliniert eingehalten werden müssen, auskommt. Im betrieblichen Umfeld geht der kontinuierliche Verbesserungsprozess in diese Richtung. Dieser bleibt jedoch meist auf ein Vorschlagswesen begrenzt und arbeitet ohne in solchem Grade feste Regeln.
Klare Regeln
Eine Rücküberprüfung bei zwei anderen (ebenfalls ohne Visionen erfolgreichen) Unternehmern ergab, dass diese genau mit solchen festen Regeln arbeiten (und sich darin von der erfolglosen Planlosigkeit der meisten Unternehmer unterscheiden). Im einen Fall waren diese explizit formuliert, im anderen eher unbewusst (und dafür in gewissem Maße umso selbstverständlicher). Diese Regeln lassen sich ansatzweise (und an vielen Fällen verblüffend analog zum Extreme Programming) folgendermaßen auf den Punkt bringen:
Zudem lässt sich beobachten, dass in solchen Unternehmen weniger(!) kommuniziert wird als in anderen Unternehmen. Diese Kommunikation findet jedoch auf einem völlig anderen Niveau statt. Zeit- und Energiefressende Rückfragen, Schuldzuweisungen und Bestandsschutzdebatten gibt es praktisch überhaupt nicht.
Wohlgemerkt: Diese wenigen Regeln werden ohne eine langfristige Vision gelebt. D.h. es wird weder hirnlos festgelegt: „Unsere Vision ist, in fünf Jahren unseren Umsatz zu verdoppeln“ noch steht irgendwo sinngebend geschrieben: „Wir werden in sieben Jahren unseren Kunden folgenden Nutzen bieten bzw. die Welt (oder einen Ausschnitt daraus) auf diese oder jene Art verändern.“ Es gab weder eine explizit formulierte noch eine implizite langfristige Vision. An fast keiner Stelle wird länger als wenige Wochen in die Zukunft geschaut (langfristige Investitionen z.B. in Fabrikanlagen waren bei diesen Unternehmern nicht notwendig). Und trotzdem hat es mit diesen paar wenigen Regeln funktioniert.
Eine gelungene Mischung
Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass auch diese iterativen Planungsverfahren ihre Kehrseiten haben. Oft müssen Bereiche bereits nach wenigen Monaten umstrukturiert werden, was man bei guter Planung hätte sehen können. Und sprunghafte Veränderungen der äußeren Umwelt können nur schwer oder gar nicht antizipiert und abgebildet werden. Mit einem rein iterativen Verfahren baut man vielleicht immer bessere Plattenspieler – aber steht Technologiesprüngen wie zum CD-Player bzw. MP3-Player völlig hilflos gegenüber.
Hier antwortet die EKS (engpasskonzentrierte Strategie) mit ihrem siebten und letzten methodischen Schritt mit einer Fokussierung auf das permanente Grundbedürfnis (Musik hören und selbst auswählen). Der Haken daran ist, dass sich diese Fokussierung erst ganz zum Schluss ergibt und unter Umständen nicht das Geringste mit etwas zu tun hat, das man persönlich als Unternehmer sinnvoll empfindet.
Die Konsequenz daraus ist, dass eine Kombination aus Vision, klaren expliziten Regeln und eine Berücksichtigung von impliziten, emotionalen Entscheidungen (immerhin fällen wir – je nach Autor zwischen 70 und 99% unserer Entscheidungen unbewusst und emotional) der Königsweg ist. (Wobei der dritte Bereich: Die Schaffung einer produktiven Emotionsgrundlage im Unternehmen den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde).
Eine klare Vision bringt so Sinn und gemeinsames Ziel ins Unternehmen. Es ergeben sich daraus ein langfristiger Blick und damit die Vermeidung ineffektiver Wege. Eine klare Vision bietet Entscheidungskriterien für die Auswahl der Mitarbeiter und auch der Kunden. Selbst Kapitalgeber können daran gemessen werden. Eine klare Vision schafft nicht zuletzt im Hirn eine Aufmerksamkeit gegenüber Entwicklungen, die in Richtung dieser Vision laufen und eröffnet somit Chancen.
Iteratives Vorgehen auf der Basis von wenigen, diszipliniert eingehaltenen (Faust-)Regeln reduziert hingegen den Planungsaufwand. Es sorgt dafür, dass das Unternehmen im Alltag auf der Ebene des Möglichen bleibt und das Mögliche auch schnellstens umgesetzt wird. Es bietet zudem einen effektiven Rahmen zur Integration der Mitarbeiter und ihres Know-hows in die Unternehmensentwicklung.
Letztlich erscheinen beide Vorgehensweisen in Kombination der erfolgversprechendste Weg. Interessant wird es natürlich, wenn beide Vorgehensweisen zu widersprechenden Handlungen führen würden. Gegenwärtig kann an diesem Punkt eigentlich nur Erfahrungswissen weiter helfen. Somit empfiehlt sich in diesen Fällen der Austausch mit einem erfahrenen Unternehmer.
::::::::::::::::::::::
Buchtipp
::::::::::::::::::::::