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Fachartikel, 04.02.2009
Lebensmittel via Internet
Quo vadis Online-Lebensmittelhandel?
Haben Sie sich schon einmal ausgemalt, wie es sein würde, Lebensmittel einfach übers Internet nach Hause zu bestellen? Wie wäre es, wenn Sie nicht mehr am späten Abend oder am Wochenende in den Supermarkt gehen, keine schweren Einkaufstaschen schleppen oder in der Schlange an der Kasse stehen müssten? Würde Ihnen wirklich etwas fehlen oder würden Sie das nicht als Erleichterung empfinden? In Großbritannien erfährt der Online-Lebensmittelhandel einen Boom. In Deutschland aber tut sich der Verbraucher schwer.
Es ist erstaunlich, wie zögerlich die deutschen Internetnutzer auf diese Frage reagieren. Wir sind gewohnt, Bücher, CDs, Kleidung und Reisen im Internet zu bestellen, gelegentlich auch Wein und Delikatessen, aber Lebensmittel wie Obst, Gemüse, Nudeln und Nutella? Hier denken viele Nutzer zuerst an Risiken und Gefahren, von denen viele gut nachvollziehbar, aber nicht immer begründet erscheinen. Erstaunlicherweise äußern viele die Angst zu vereinsamen, wenn sie durch den Online-Kauf auf die Gespräche mit Nachbarn, Freunden und Bekannten beim Einkaufen im Supermarkt verzichten müssten. Man fühlt sich in das Jahr 1990 zurückversetzt, in dem auch hin und wieder die Befürchtung geäußert wurde, wir könnten mit dem Siegeszug des Internets sozial vereinsamen. Die Zweifel wirken rückblickend unbegründet und wie ein Schreckreflex auf Entwicklungen, die wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht einschätzen konnten. Im Ernst: Wie häufig haben Sie sich in den letzten Wochen während ihres Einkaufs mit Nachbarn, Freunden oder Bekannten unterhalten? Und wie oft haben Sie sich beim Small-Talk mit unliebsamen Nachbarn im Supermarkt die Frage gestellt, wie sie wieder möglichst schnell aus der Situation herauskommen?

Online-Lebensmittelkauf: Der Verlust der Sinnlichkeit?

Viele Nutzer monieren, dass man im Internet die Ware nicht über alle Sinne erleben könne wie im Supermarkt. Aber ist dies Grund genug, nicht online einzukaufen? Es scheint tieferliegende Zweifel zu geben, die uns davon abhalten, Lebensmittel im Internet zu bestellen. Andere Nationen sind da weniger verhalten, allen voran die USA und Großbritannien, wo die großen Lebensmittel-Onlineshops bereits hohe Umsätze und Wachstumsraten verzeichnen. Offenbar haben die Deutschen ein besonderes Verhältnis zu Lebensmitteln, die als elektronische Ware noch schwer vorstellbar erscheinen. Aber in unseren Befragungen der Nutzer konnten wir auch beobachten, wie verführerisch die Möglichkeit erlebt wird, lästige Pflichteinkäufe durch das Internet bequem und zeitsparend tätigen zu können. Das Problem: Es gibt nur wenige Online-Shops mit Lebensmittel-Vollsortimenten, in denen der interessierte User Erfahrungen sammeln könnte. Deshalb haben wir die Nutzer in unseren Studien mit ausländischen Shops konfrontiert und Erstaunliches zutage gefördert.

Schaut man sich die generelle Ausganssituation beim Einkauf im Alltag an, fällt auf, dass sich viele Phänomene, die Sie vermutlich tagtäglich an sich selbst beobachten, in ähnlicher Weise auch auf das Internet übertragen lassen. Und: Nur wenn das Internet Lösungen für diese Konflikte und Bedürfnisse zur Verfügung stellt, nehmen wir es auch in Anspruch! Allein die Wahrnehmung des Einkaufens unterscheidet sich je nach Wochentag, Tageszeit, aber auch persönlicher Verfassung, in der wir einkaufen. Es gibt Verfassungen, in denen empfinden wir das Einkaufen als zum Alltag gehörende Pflicht, die zwar lästig, aber erforderlich ist. Das betrifft vor allem die (meist wöchentlichen) Vorratskäufe (also Toilettenpapier, Grundnahrungsmittel etc.), die wir häufig in den großen Supermarktketten oder beim Discounter erledigen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch die leidenschaftlichen Einkäufe, die mit persönlicher Hingabe getätigt werden. Stellen Sie sich einfach den Kauf frischer Lebensmittel auf dem Wochenmarkt vor, wo Sie die Zutaten für das Abendessen für Gäste am Wochenende zusammenstellen. In solchen Situationen wird das Einkaufen zum Genusserleben, die persönliche Verfassung ist geprägt von beschwingter Heiterkeit, in der Sie die Lebensmittel schon in ihrer unmittelbaren Verwendung erleben, z.B. als Zutat zu einem leckeren Gericht. Hier wählen Sie nicht den anonymen Discounter, sondern Sie bevorzugen das persönliche Fachgeschäft, den Wochenmarkt oder das Delikatessgeschäft, weil sie sich etwas Gutes tun möchten. Dasselbe gilt natürlich auch für das Internet.

Nicht in jeder Verfassung möchte man Waren im Internet bestellen (und das gilt nicht nur Lebensmittel, sondern auch für Kleidung, Bücher und CDs). Es gehört aber leider zu den großen Missverständnissen über das Internet, dass wir angeblich immer genau wissen, was wir kaufen wollen, wenn wir ins Internet gehen. Und bedauerlicherweise sieht man den Websites und Online-Shops auch auf den ersten Blick an, wenn sie diesem Irrtum erlegen sind. Denn die Annahme einer zielgerichteten Produktsuchte verleitet zu übertriebener Funktionalität und Strukturiertheit, vermeidet aber alles, was ein angenehmes Einkaufserleben gewöhnlich ausmacht: Möglichkeiten zu stöbern und sich je nach Verfassung, in der man sich gerade befindet, ablenken und inspirieren zu lassen. Das haben die Markenshops im Internet am schnellsten begriffen (denn sie wissen, wie ihre Kunden in der realen Welt wirklich ticken – und wieso sollten sie sich im Internet anders verhalten?), und die großen E-Commerce-Anbieter und Versandhändler ziehen langsam nach. Für den Lebensmittelhandel ist dieser Punkt natürlich noch bedeutsamer, denn auch im Supermarkt ist das Stöbern, Schauen und Sich-inspirieren-lassen ein wichtiges Element des Einkaufserlebnisses. In welchen Situationen würden wir aber nun Lebensmittel im Internet kaufen?

Einkaufsstrategien: Von der Pflicht zur Kür

Um diese Frage zu beantworten, ist ein Blick auf die Einkaufsstrategien der Verbraucher aufschlussreich. Diese bilden sich je nach Angebot und persönlicher Lebenssituation als relativ stabile und gleichförmige Handlungsmuster (sogenannte „Einkaufs-Skripts“) heraus und erleichtern uns die Orientierung im Alltag. Einkaufsstrategien variieren zwischen unterschiedlichen Konsumentengruppen. Schauen wir uns die Mütter an, die mit ein oder zwei kleinen Kindern ihre Großeinkäufe bewältigen müssen und das Einkaufen die meiste Zeit als lästige Pflicht erleben. Ihnen stehen nur kurze Zeitfenster zum Lebensmitteleinkauf zur Verfügung, der Einkauf von Lebensmitteln wird als Pflichtakt empfunden, der notwendig ist, um sich und die Familie zu versorgen. Als Einkaufsstrategien arrangieren sich Mütter kurze Zeitfenster, in denen die Kinder versorgt sind, es wird maximal ein großer Einkauf pro Woche getätigt (Vorratshaltung), und nach Möglichkeit Läden mit Allroundsortiment aufgesucht, die in („Lauf“-)Nähe liegen. Ganz anders bei den älteren „Silver Surfern“, also Personen über 50 Jahre, die auch das Internet nutzen. Silver Surfer haben viel Zeit, um sich auf die eigenen Vorlieben rück zu besinnen und den Einkauf als Freizeitbeschäftigung und als gemeinschaftliches Erlebnis mit dem Partner zu genießen. Der Einkauf wird für sie zur inspirierenden „Entdeckungsreise“. Einkaufsstrategien bestehen im häppchenweise Einkaufen mehrmals die Woche, oft zu Fuß oder mit dem Fahrrad (Aufgeben der Vorratshaltung), unter Verzicht auf schwere Lebensmittel. Silver Surfer suchen gerne Läden mit spezialisiertem, hochwertigem Sortiment und guter Beratung auf (z.B. mit frischer Käsetheke und Feinkostabteilung). Und natürlich haben die Silver Surfer andere Ansprüche an Online-Shops im Internet als berufstätige Mütter.

Im Zusammenhang mit der Frage, warum gerade in Deutschland Lebensmittel im Internet so selten gekauft werden, gibt es einen weiteren Punkt, der häufig genannt wird, aber gerade im Internet einfach zu lösen wäre: die fehlende Einkaufsatmosphäre. Schaut man sich diverse Webseiten der Anbieter an, bekommt man einen Eindruck davon, was die Nutzer meinen: Da erscheinen Abbildungen von Konserven untereinander aufgelistet auf Produktübersichtsseiten, als ginge es um unterschiedliche Schraubenpackungen. Aber es sind eben keine Schrauben, sondern Nahrungsmittel und Nahrungsmittel werden immer noch danach beurteilt, ob und wie sie genießbar sind. Oder: Ist Ihnen schon einmal ein Regal im Supermarkt aufgefallen, in dem sämtliche Marken eines Artikels übereinandergestapelt sind? Vermutlich nicht, aber warum werden dem Nutzer die Waren im Internet auf diese Weise präsentiert?


Oder ein anderes Beispiel: Suchen Sie im Supermarkt alphabetisch nach Produkten oder wollen Sie intuitiv durch die Regale geführt werde? Anders im Internet: Hier gibt es Shops, in denen müssen Sie als Nutzer die genaue Bezeichnung der Tomatensorte bereits kennen, um nach ihr suchen zu können. Sie erhalten als Suchergebnis aber nicht sämtliche Tomatensorten im Vergleich nebeneinander, sondern müssen diese alphabetisch sortieren. Wissen Sie, worauf ich hinaus möchte?

Ein besonders amüsantes Beispiel ist uns in einem Schweizer Shop aufgefallen: Hier kann der Nutzer aus einer Vielzahl frischer Tomatensorten wählen, allerdings beinhaltet die Gewichtsangabe „zwischen 500 und 1150 Gramm“ eine Spannbreite von über 100 Prozent! Würden Sie in Kauf nehmen, für den Preis von einem Kilo nur die Hälfte der Tomaten geliefert zu bekommen?
 
Es gibt aber auch positive Beispiele, die deutlich machen, was Einkaufserleben im Internet bedeuten kann. In einem Shop, den wir analysiert haben, wird den Nutzern die Möglichkeit geboten ein Einkaufsradio anzustellen, um sich im Hintergrund berieseln zu lassen aufgefallen (Leshop.fm). Das ist wirklich ein einfaches und doch zugleich wirksames Angebot, denn es ist aus zahlreichen Studien bekannt, dass die richtige Hintergrundmusik das Einkaufen angenehmer erscheinen lässt und gleichzeitig zu höheren Umsätzen führt. Warum sollte das nicht auch im Internet funktionieren?

König Kunde: Ihr Wunsch sei mir Befehl!

Ein anderer Shop aus UK (tesco.com) bietet die Möglichkeit, beim Bestellen von frischer Ware spezielle Wünsche zur Beschaffenheit des Produkts anzugeben. So kann der Kunde beispielsweise den Wunsch nach reifen und kleinen Bananen äußern, indem er eine kurze Notiz in ein Eingabefeld schreibt. Auch wenn die Auswertung der Kundenwünsche automatisiert nach Stichworteingaben erfolgt, hat der Nutzer das Gefühl als Kunde ernst genommen zu werden. Das Eingabefeld vermittelt ihm den Eindruck, als tausche er sich auf persönlicher Ebene mit dem Anbieter aus, was die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz des Shops fördert. Dieses Vertrauensangebot wird noch gesteigert, wenn er und die anderen Kunden die Möglichkeit erhalten, eigene Kommentare zu schreiben, die gelieferten Produkte zu bewerten und Tipps oder Rezepte mit anderen Kunden auszutauschen. Und plötzlich haben wir das, was viele vermeintlich vermissen würden: einen Austausch der Kunden untereinander, über die Produkte, über Rezepte und Themen rund um den Einkauf – und das ganz ohne schreiende Kinder und überfüllte Kassen.

Es gibt zahlreiche Beispiele, die uns Gründe liefern, warum es besser ist keine Lebensmittel im Internet einzukaufen. Aber sie zeigen auch, dass Lebensmittelkauf im Internet kein Geheimnis sein muss, wenn man genau hinsieht, wie Menschen im Alltag einkaufen, was ihre Bedürfnisse sind und an welchen Stellen sie Ängste äußern oder Unterstützung benötigen.

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Publikationshinweis
Lebensmittelshops im Internet: Das letzte große eCommerce-Potenzial?

Eine Motiv- und Bedarfsanalyse zum Potenzial von Online-Lebensmittelshops in Deutschland inklusive Handlungsempfehlungen und Best Practices

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Über den Autor

Daniel Reza Schmeißer ist Diplom-Psychologe und beschäftigt sich privat und beruflich seit vielen Jahren mit dem Einkaufsverhalten im Internet. Nach dem Studium der Philosophie und Psychologie, Stationen an der Universität und Forschungsinstituten, gründete er 2004 das Forschungs- und Beratungsunternehmen phaydon | research+consulting, das sich mit einem Team von inzwischen 28 Mitarbeitern auf die Analyse und Optimierung der User Experience im Internet spezialisiert hat. Er ist Autor zahlreicher Studien und Fachartikel zum Thema E-Commerce und Online-Forschung, sowie Lehrbeauftragter im Masterstudiengang Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Fresenius in Köln.

ZUM AUTOR
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