Vom großen gemeinsamen Markt spricht bereits der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) von 1957. Schon damals hatten sich Politiker das Ziel gesetzt, alle Hemmnisse für den innergemeinschaftlichen Austausch zu beseitigen, damit die nationalen Märkte zu einem einzigen verschmelzen. Am 31.12. 1992 war es dann so weit: Der europäische Binnenmarkt wurde offiziell vollendet. Ihm ist nicht zuletzt auch die Einführung des Euro zu verdanken.
Der den Binnenmarkt regelnde EG-Vertrag enthält eine Reihe wichtiger Bestimmungen. So sind beispielsweise Zölle und andere Handelsbeschränkungen mit dem Vertragswerk nicht vereinbar. Zudem gilt das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Danach sollen Waren, die in einem Land der EU rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, im Prinzip auch in allen anderen Ländern der Union verkauft werden dürfen.
Doch in der Praxis gibt es manches Sandkörnchen im Binnenmarktgetriebe. Dies zeigte sich beispielsweise beim Streit um die Dienstleistungsrichtlinie der EU-Kommission im Jahr 2004. Die Richtlinie sollte das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung auch für den Dienstleistungsverkehr rechtlich verankern.
Über zwei Jahre hinweg diskutierte das Europäische Parlament, unter welchen Bedingungen beispielsweise Handwerker in der EU grenzüberschreitend arbeiten oder Techniker in anderen Mitgliedsstaaten Maschinen reparieren dürfen. Erst 2006 wurde die Richtlinie verabschiedet – allerdings mit vielen Änderungen und Einschränkungen und weit entfernt vom ursprünglichen Entwurf. Bis Ende 2009 muss sie nun von den EU-Ländern umgesetzt werden.
Auch andere Hindernisse für den Binnenmarkt sind oft wenig transparent und nicht offenkundig. Da hilft es, sich die Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) anzuschauen, die Vertragsverletzungsverfahren betreffen. Meint die Europäische Kommission als Hüterin der Verträge, dass eine bestehende Regelung oder ein Gesetzesvorhaben eines Mitgliedsstaats gegen den EG-Vertrag verstößt, kann sie gegen dieses Land ein Verfahren anstrengen – viele enden mit Verurteilungen:
Fast 30 Prozent der 425 Urteile, die zwischen Jahresanfang 2000 und Mitte 2008 gegen die fünf größten EU-Nationen Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und das Vereinigte Königreich gefällt wurden, betrafen Verstöße gegen Regeln des EU-Binnenmarkts.
Vergehen dieser großen Länder sind besonders gravierend, weil auf sie, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, rund 70 Prozent des europäischen Binnenmarkts entfallen. Von seinem Recht, gegen säumige Mitgliedsländer im schlimmsten Fall sogar Strafzahlungen zu verhängen, hat der EuGH bislang in Verfahren gegen Frankreich, Griechenland und Portugal Gebrauch gemacht.
Am häufigsten verstießen die großen Länder laut den Urteilen gegen Regeln des freien Dienstleistungs- und Warenverkehrs sowie gegen das Recht der EU-Bürger, in jedem Mitgliedsstaat zu wohnen, zu arbeiten und so wie in der Heimat behandelt zu werden. Größte Sünder wider den gemeinsamen Markt waren von den wirtschaftlich stärksten EU-Ländern Italien, Spanien und Frankreich, die sich insgesamt 96-mal vom EuGH abstrafen lassen mussten.
Die vom Europäischen Gerichtshof festgestellten Verstöße gegen den europäischen Binnenmarkt betreffen dabei alle wichtigen Grundfreiheiten:
Als besonders anfällig für Binnenmarktverstöße erweist sich auch das öffentliche Auftragswesen. Grundsätzlich müssen sich staatliche Stellen bei der Nachfrage von Waren und Dienstleistungen an den EG-Vertrag halten. Ausschreibungen und Vergabeverfahren sollen demnach offen und transparent sein, um den Wettbewerb anzukurbeln und das Preis-Leistungs-Verhältnis zu verbessern.
Gleichwohl bevorzugen staatliche Stellen oftmals immer noch nationale, regionale oder lokale Anbieter. Zum einen spielt dabei sicher eine Rolle, dass sich beispielsweise Kommunen Vorteile aus dem direkten, persönlichen Kontakt aller Beteiligten versprechen. Zum anderen sind wirtschaftspolitische Überlegungen entscheidend. Öffentliche Auftraggeber können z.B. das Ziel verfolgen, die Beschäftigung in einer bestimmten Region zu fördern – Unternehmen aus anderen Mitgliedsstaaten hätten dann schlechtere Karten, da sie zumindest einen Teil der Arbeitskräfte mitbringen würden.
Doch meist werden durch ein solch protektionistisches Verhalten der staatlichen Nachfrager Ressourcen, sprich Steuergelder, verschwendet: Der Staat zahlt mehr als notwendig für eine Leistung, denn es kommt nicht der günstigste Anbieter zum Zuge. Im untersuchten Zeitraum war dies nicht gerade selten der Fall:
Von Januar 2000 bis Juni 2008 hat die EU-Kommission gut 180 Vertragsverletzungsverfahren gegen EU-Staaten angestrengt, weil die Länder ihrer Ansicht nach öffentliche Aufträge regelwidrig vergeben oder Gemeinschaftsrecht nicht in nationale Gesetze umgesetzt haben.
Dabei gibt es unterschiedliche nationale Schwerpunkte. So geht es im Falle Deutschlands in fast der Hälfte der Verfahren um Aufträge in der Abfall- und Abwasserwirtschaft sowie der Müllentsorgung. Ein weiterer, aber mit Abstand kleinerer Schwerpunkt der Vergabesünden ist die Bauwirtschaft.
Anders ist die Situation in Italien. Hier nimmt die EU-Kommission vor allem Anstoß an der Vergabepolitik in der Bauindustrie. Die Abfallwirtschaft spielt zahlenmäßig nur eine geringere Rolle. Auch in Frankreich zählt die Bauwirtschaft zu den Sektoren, in denen die öffentliche Hand nach Ansicht der Kommission relativ häufig gegen Vorschriften des öffentlichen Beschaffungswesens verstößt.
*) Vgl. Berthold Busch: Der EU-Binnenmarkt – Anspruch und Wirklichkeit, IW-Positionen Nr. 39, Köln 2009, 52 Seiten, 11,80 Euro. Bestellung über Fax: 0221 4981-445 oder unter: www.divkoeln.de