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Fachartikel, 04.06.2010
GKV-Ausgaben
Gesundheitssystem krankt an den Ausgaben
Dass die Kosten im deutschen Gesundheitswesen explodieren, liegt nicht erster Linie am demografischen Wandel. Die größten Kostentreiber der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sind vielmehr Fehlanreize im System und der medizinisch-technische Fortschritt.
Weil die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung – kurz GKV – seit Jahren stark ansteigen, erhöhen sich die Versicherungsbeiträge und damit die Lohnzusatzkosten. Insgesamt sind heute bis zur Beitragsbemessungsgrenze von 3.750 Euro 14,9 Prozent des monatlichen Bruttoentgelts für die Krankenversicherung fällig – wovon Arbeitgeber 7 Prozent und Arbeitnehmer 7,9 Prozent zahlen. Im Jahr 1992 waren es erst 12,3 Prozent. Der aktuelle Beitragssatz ist außerdem nur die halbe Wahrheit: Würde der Bundeszuschuss für das Gesundheitssystem – derzeit beläuft er sich auf 15,7 Milliarden Euro im Jahr – ebenfalls über Beiträge finanziert, läge der Satz bei 16,5 Prozent.

Es gibt zwei Erklärungen für die Finanzsituation der gesetzlichen Krankenversicherung: Die erste sieht das Problem vorrangig im Ausgabenwachstum, die zweite schiebt die Geldnot auf die Erosion der beitragspflichtigen Einkommen. Welche Erklärung tragfähig ist, zeigt ein Blick in die Statistik:

Seit 1991 sind die Ausgaben der GKV je Versicherten um 86 Prozent gestiegen, die beitragspflichtigen Einkommen dagegen nur um 48 Prozent.


Die Ausgaben der gesetzlichen Kassen wuchsen also pro Kopf und Jahr um durchschnittlich 1,3 Prozentpunkte stärker als die beitragspflichtigen Bruttoentgelte und Renten. Das konnten auch zahlreiche Einschnitte in den GKV-Leistungskatalog und diverse Maßnahmen zur Kostendämpfung nicht verhindern.

Die Tatsache, dass die Gesundheitsausgaben überproportional steigen, lässt allerdings noch lange nicht den Schluss zu, dass der gesetzlichen Krankenversicherung die Finanzierungsgrundlage wegbricht. Um diese Frage zu beantworten, muss die Einkommensentwicklung betrachtet werden. Bliebe das Pro-Kopf-Wachstum der für die GKV beitragspflichtigen Einkommen auf Dauer hinter dem des Volkseinkommens zurück, stünde das Finanzierungskonzept der Krankenversicherung auf tönernen Füßen.

Dem ist aber nicht so: Zwischen 1991 und 2009 sind die beitragspflichtigen Einkommen und das Volkseinkommen beinahe gleich stark gewachsen. Also sind weniger die beitragspflichtigen Einkommen schuld an der Finanznot der GKV, sondern die Ausgaben. Und Letztere steigen weiter. Die größten künftigen Kostentreiber im Einzelnen:

Kostentreiber Demografie


Die im Umlageverfahren organisierte Krankenversicherung ist in besonderem Maße davon betroffen, wenn die Bevölkerung altert. Denn das Gesundheitsrisiko steigt mit den Lebensjahren an. Deshalb gilt: Je mehr Menschen zu den älteren Jahrgängen mit hohen Behandlungskosten gehören und je weniger junge Menschen mit niedrigeren Gesundheitsrisiken ins System einzahlen, desto höher werden die Finanzierungslasten der GKV pro Kopf. Mithilfe der Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamts lässt sich dieser Ausgabentreiber quantifizieren:

Bis zum Jahr 2060 werden die durchschnittlichen GKV-Ausgaben aufgrund der Alterung der Versichertengemeinschaft in realer Rechnung um 25 bis 27 Prozent steigen.

Wie hoch genau der Anstieg ausfallen wird, hängt letztlich von der Nettozuwanderung nach Deutschland ab: Wandern ab dem Jahr 2020 jährlich 200.000 Personen ein, werden sich die GKV-Kosten durch die Demografie um rund 25 Prozent erhöhen. Kommen ab dem Jahr 2014 hingegen nur rund 100.000 Menschen pro Jahr nach Deutschland, expandieren die Ausgaben um gut 2 Prozentpunkte stärker.

Kostentreiber Lebenserwartung

Der Faktor Demografie berücksichtigt noch nicht, inwieweit eine höhere Lebenserwartung das individuelle Ausgabenrisiko beeinflusst. Einige Experten gehen davon aus, dass Menschen die „gewonnenen“ Lebensjahre weitgehend gesund verbringen. Eine längere Lebenserwartung würde deshalb nicht zu höheren GKV-Ausgaben führen.

Andere Fachleute sehen das anders und betonen, die Lebenserwartung steige nicht zuletzt deshalb, weil einst tödliche Krankheiten heute erfolgreich behandelt werden. Das, so argumentieren sie, kommt die GKV teuer zu stehen: Zum einen genesen die Patienten nicht immer vollständig und es sind aufwendige Folgetherapien nötig. Zum anderen werden diese Menschen anfälliger für andere Krankheiten und müssen dann erneut oder zusätzlich behandelt werden.

Kostentreiber Medizinisch-technischer Fortschritt

Eine besondere Rolle schreiben Gesundheitsexperten dem medizinisch-technischen Fortschritt zu, wenn es um die ständig steigenden Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung geht. Allerdings ist es nur schwer nachzuvollziehen, weshalb Innovationen ausgerechnet das Gesundheitssystem verteuern sollen. Schließlich führt der technische Fortschritt in anderen Bereichen wie der Unterhaltungselektronik zu sinkenden Kosten bei gleichem Nutzen oder zu höherem Nutzen bei gleichen Kosten.

Kostentreiber Fehlanreize

Das Zusammenspiel von mangelnder Kostenverantwortung der Versicherten und fehlendem Preiswettbewerb zwischen den Kassen sowie Leistungserbringern ist ausschlaggebend für steigende GKV-Ausgaben. Dabei steht die lohnsteuerähnliche Wirkung der Beitragsfinanzierung am Anfang der Wirkungskette: Zwar sinkt der individuelle Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung mit dem Einkommen, wenn der Versicherte beispielsweise von Voll- auf Teilzeitarbeit wechselt. Eine kostenbewusste Nachfrage bringt dem Versicherten allerdings fast nichts. Die Folge: Die Krankenkassen verspüren wenig Druck, im Wettbewerb effiziente und auf individuelle Wünsche zugeschnittene Versorgungslösungen zu entwickeln. Am Ende freut dies auch die Leistungserbringer, weil der Konkurrenzdruck für sie weniger stark ausfällt.

Fasst man das Zusammenspiel von Fehlanreizen und dem medizinischtechnischen Fortschritt in einem Ausgabenfaktor zusammen, dann gehen die meisten Studien von einer jährlichen Kostensteigerung von 1 Prozent für die GKV aus.

Bereits ohne den Einfluss der Bevölkerungsalterung werden die Pro-Kopf-Ausgaben der GKV allein aufgrund der Fehlsteuerungen im System bis zum Jahr 2060 real um 68 Prozent steigen.

Der Kostenanstieg durch Fehlanreize und den technischen Fortschritt wird also um das 2,5- bis 2,8-Fache höher sein als der Anstieg, den die Bevölkerungsalterung in der gesetzlichen Krankenversicherung verursacht.

Doch es gibt eine Möglichkeit, die Fehlanreize zu beseitigen: eine sozial abgefederte Prämienfinanzierung der GKV. Diese kann für mehr Transparenz und Kostenverantwortung bei den Versicherten sorgen. Dann wären die Kassen und Leistungserbringer gezwungen, im Wettbewerb nach effizienten Versorgungsformen zu suchen und kostengünstigere Versicherungstarife anzubieten. Dies würde zwar das Ausgabenwachstum nicht komplett stoppen können – wohl aber deutlich abbremsen.
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