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Fachartikel, 12.05.2009
Exportwirtschaft
Mittel- und Osteuropa am Tropf des Westens
Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei waren einst gefeierte Erfolgswirtschaften – heute sind sie krisengebeutelte Verlierer. Seitdem in Westeuropa die Volkswirtschaften schrumpfen, befindet sich auch Mittel- und Osteuropa im freien Fall. Ein Grund dafür ist die enge Verflechtung der beiden einstigen Blöcke. So lässt sich ein Großteil der Exportzuwächse in Osteuropa auf importierte Vorleistungen aus dem Westen zurückführen, wie das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) herausgefunden hat.*)
Schon vor Ausbruch der aktuellen Finanz- und Konjunkturkrise flößten die aufstrebenden Länder Mittel- und Osteuropas (MOE) dem Westen Respekt ein: Insbesondere Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei – diese vier Staaten wurden vom IW aufgrund der besseren Datenlage genauer untersucht – drohten den etablierten Nationen bei der Produktion von Industriegütern den Rang abzulaufen. Gefördert wurde dieser Aufstieg durch Exporterfolge, von denen die alteingesessenen Industrieländer nur träumen können:

Die Ausfuhren von Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei stiegen von 1995 bis 2007 um bis zu 360 Prozent – die 30 OECD-Länder kamen im selben Zeitraum auf ein Plus von rund 100 Prozent.

Auf den ersten Blick wirken die Zahlen ziemlich beeindruckend. Doch die Exporterfolge der MOE-Staaten – und damit auch ihr Konkurrenzdruck auf den Westen – lassen sich in mehrfacher Hinsicht relativieren:

Geringe Ausgangsbasis

Früher war der Ostblock von den großen Industriestaaten im Westen Europas weitgehend abgeschnitten. Erst mit dem allmählichen Abbau der EU-Handelsschranken seit Mitte der 1990er Jahre kam der Handel in Gang. Mit anderen Worten: Die Ausfuhrdynamik der mittel- und osteuropäischen Länder ist nicht zuletzt deshalb so hoch, weil die Zuwächse von einem sehr geringen Niveau aus erfolgten.

Starker Importanstieg

Im Zuge des Normalisierungsprozesses sind nicht nur die Exporte der Mittel- und Osteuropäer stark angestiegen, sondern im nahezu gleichen Ausmaß auch ihre Einfuhren. Alle vier MOE-Staaten weisen – wiederum vor allem wegen des niedrigen Ursprungsniveaus – deutlich höhere Zuwachsraten auf als Deutschland oder alle OECD-Länder insgesamt. Polen und die Slowakei etwa verzeichneten im Jahr 2007 sogar Handelsbilanzdefizite, sie führten also mehr Waren und Dienstleistungen ein als aus. Von diesem Importanstieg hat insbesondere die deutsche Wirtschaft profitiert – nicht zuletzt wegen ihrer Stärke im Investitionsgüterbereich und der geografischen Nähe zu den mittel- und osteuropäischen Staaten.

Die deutschen Exporte in die vier MOE-Länder sind von 1995 bis 2007 zwischen 330 und 460 Prozent gestiegen. Die Ausfuhren Deutschlands in alle Welt erhöhten sich im selben Zeitraum insgesamt „nur“ um rund 150 Prozent.

Gegenüber Polen wies Deutschland 2007 sogar einen deutlichen Exportüberschuss auf; mit den übrigen drei Ländern kam eine fast ausgeglichene Handelsbilanz zustande.

Hohe ausländische Vorleistungen

Viele westliche Unternehmen nutzen die gut qualifizierten und relativ günstigen Arbeitskräfte in Mittel- und Osteuropa für sogenannte Offshoring-Geschäfte: Dabei liefert der Westen Vorleistungen – etwa Auto- oder Handyteile – nach Gliwice oder Györ, wo sie zusammengebaut werden und anschließend als Re-Importe nach Westeuropa zurückwandern. In den MOE-Staaten kommt es durch diese Arbeitsteilung zu einem starken Anstieg auf beiden Seiten der Handelsbilanz:

Fast 90 Prozent des ungarischen Exportwachstums von 1998 bis 2000 entfielen auf importierte Vorleistungen – deren Anteil an den Ausfuhren stieg dabei von 43 auf 60 Prozent.

Hinzu kommt, dass die Vorleistungsimporte der mittel- und osteuropäischen Länder nicht nur mengenmäßig gestiegen, sondern auch immer besser und vielfältiger geworden sind. Das ist ein wichtiger Grund dafür, dass Preise, Qualität und Vielfalt der MOE-Exporte stark zugelegt haben – ein Umstand, der die westlichen Länder ebenfalls vielfach in Unruhe versetzt hat.

Überzeichnete Produktionszuwächse

Ähnlich wie bei den Exporterfolgen lässt sich auch ein beträchtlicher Teil der Produktionszuwächse in den jungen Marktwirtschaften auf importierte Vorleistungen zurückführen. Das gilt vor allem für technologisch hochwertige Industriegüter wie pharmazeutische Produkte, EDV, Kommunikationstechnologie oder Medizintechnik – in diesem Segment könnten die mittel- und osteuropäischen Länder dem Westen künftig am ehesten Konkurrenz machen.

Zwischen 1995 und 2006 ist die Produktion von Industriegütern höherer Technologie im Osten gewaltig gestiegen: in Polen um rund 300 Prozent, in Tschechien um 320 Prozent, in der Slowakei um mehr als 375 Prozent und in Ungarn sogar um 700 Prozent. Zum Vergleich: Deutschland konnte seine Kapazitäten in diesem Bereich im selben Zeitraum nur um knapp 70 Prozent ausweiten. Doch so groß der Vorsprung der Mittel- und Osteuropäer erscheint, er beruht zu einem guten Teil nicht auf eigener Leistung:

Weit mehr als drei Viertel der Produktionszuwächse bei technologisch anspruchsvollen Industriegütern in den vier MOE-Staaten gehen allein auf den Zuwachs der Vorleistungen zurück.

Tschechien zum Beispiel steigerte seine Vorleistungsproduktion zwischen 1995 und 2006 um rund 350 Prozent, Ungarn sogar um mehr als 760 Prozent. Zwar lässt es sich nicht exakt belegen, doch auch hinter diesen extremen Zuwachsraten dürften wieder vor allem importierte Vorleistungen stehen.

Überschätzte Wertschöpfung

Schaut man sich nur die Wachstumsraten bei der Wertschöpfung an, konnten die MOE-Länder zwischen 2000 und 2006 punkten: Mit Steigerungen zwischen 53 und 78 Prozent für technologisch hochwertige Produkte schnitten sie deutlich besser ab als Deutschland, das lediglich eine Zuwachsrate von 22 Prozent erzielen konnte.

Ganz anders stellt sich das Thema Wertschöpfung in den mittel- und osteuropäischen Ländern allerdings dar, wenn man diese Größe mit der Wirtschaftskraft anderer Staaten ins Verhältnis setzt. Dann nämlich ist die Leistung von Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei trotz der hohen Wachstumsraten immer noch relativ gering:

Im Jahr 2006 kamen die vier MOE-Länder bei der Produktion von hochwertigen Industriegütern zusammen auf rund 2 Prozent der OECD-Wertschöpfung. Deutschland dagegen stellte mit gut 15 Prozent annähernd das Achtfache und konnte seinen Anteil zuletzt ebenfalls steigern.

Auch hier zeigt sich, dass die Auslandsverlagerungen westlicher Unternehmen zwar die Exporte der mittel- und osteuropäischen Länder befeuern, deren Wertschöpfung aber nicht im gleichen Maß an Bedeutung gewinnt. So sind die Anteile Tschechiens, Ungarns, Polens und der Slowakei an den OECD-Warenexporten deutlich größer als ihre Wertschöpfungsquoten.

Große Unterschiede gibt es zwischen den MOE-Staaten auch hinsichtlich der Qualität der Wertschöpfung. Gemessen an der gesamten industriellen Wertschöpfung steuern Polen und die Slowakei deutlich weniger hochwertige Technologie zur OECD-Wertschöpfung bei als Tschechien und Ungarn.

Diese Unterschiede spiegeln sich auch in den Innovationsausgaben wider. In Tschechien und Ungarn flossen zuletzt rund 1,5 respektive 1 Prozent der Wirtschaftsleistung in die Forschung und Entwicklung – mit steigender Tendenz; in Polen und der Slowakei dagegen sank der Anteil zuletzt auf 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zum Vergleich: Die Bundesrepublik Deutschland wendete rund 2,5 Prozent ihrer Wirtschaftskraft für neue Methoden und Produkte auf.

Die Heterogenität der vier MOE-Staaten setzt sich schließlich auch beim finanziellen Engagement der multinationalen Unternehmen fort: Während in Ungarn und Tschechien im Jahr 2003 etwa die Hälfte der Aufwendungen für Forschung und Entwicklung von ausländischen Konzernen gestemmt wurde, mussten Unternehmen und Regierungen in Polen und der Slowakei ihre Innovationsausgaben zum größten Teil selbst bestreiten.

*)Vgl. Jürgen Matthes: Eine Relativierung der Exporterfolge der MOE-Staaten, in: IW-Trends 2/2009

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