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Fachartikel, 28.07.2009
Agenda 20D
Masterplan für den nächsten Wirtschaftsaufschwung
Die Herausforderung könnte größer kaum sein: Nach dem historischen Wirtschaftseinbruch sollte Deutschland mehr Wachstum und Verteilungseffizienz erreichen. Nötig sind vor allem ein besserer Zugang zu Bildung und Arbeit, eine investive Haushaltspolitik und die Wiederbelebung eines schwer angeschlagenen Wachstumsfaktors – des Vertrauens.*)

Jeder hat das Recht, etwas falsch zu machen – aber bitte nicht immer das Gleiche. Wenn Deutschland also im kommenden Aufschwung die Fehler der Vergangenheit vermeiden will, muss es diese erst einmal identifizieren. Rückblende: Vor sechs Jahren stand die Bundesrepublik schon einmal vor großen Problemen. Ein wachstumspolitisch verlorenes Jahrzehnt hinterließ mehr als fünf Millionen Arbeitslose, und bei normaler Auslastung der Produktionskapazitäten betrugen die Wachstumsaussichten kaum 1 Prozent pro Jahr. Zwar schaffte das Land dank einer unternehmerischen Fitnesskur und der Agenda 2010 eine Trendwende – bis 2008 stieg dieses Potenzialwachstum auf 1,6 Prozent.

Zu einer ehrlichen Bilanz des vergangenen Aufschwungs gehört aber auch die Einsicht, dass dessen Qualität zumindest in der Wahrnehmung der Bevölkerung nicht richtig angekommen ist. Die rot-grüne Reform der Grundsicherung schwächte das Sicherheitsempfinden der Menschen, und die Erhöhung der Mehrwertsteuer durch die Große Koalition schmälerte zusammen mit hohen Inflationsraten die Massenkaufkraft.

Hinzu kam eine Lohnpolitik, die sich auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze konzentrierte. Das begrenzte den Verdienstzuwachs großer Bevölkerungskreise bis in das Jahr 2008 hinein und stand zudem in starkem Kontrast zu den deutlich steigenden Gewinneinkommen.

Kurzum: Der vergangene Aufschwung hatte eine verteilungspolitische Schieflage – so sehen es zumindest viele Bundesbürger. Ob das stimmt, hat das IW Köln anhand einer empirischen Analyse untersucht. Deren Ergebnisse zeigen, dass es beides gegeben hat – Verlierer, aber auch Gewinner:

  • Arbeitsplätze: Der zurückliegende Konjunkturboom kam vor allem jenen Menschen zugute, die wieder einen Arbeitsplatz gefunden haben. In Kombination mit den Arbeitsmarktreformen sind zwischen 2003 und 2008 mehr als 1,6 Millionen neue Stellen entstanden.
  • Markteinkommen: Zwischen 1995 und 2003 hatte die Ungleichheit in der Verteilung der Haushalts-Markteinkommen deutlich zugenommen. Danach ist aber der Abstand gesunken und lag 2006 sogar wieder unter dem Niveau von 1995. Bezieht man dann noch die staatliche Umverteilung über Transfers und Abgaben mit ein, schmilzt die Lücke weiter: Die Nettoeinkommen der Haushalte lagen 2006 sogar dichter beieinander als Mitte der neunziger Jahre.
  • Armutsindikatoren: Bei einem internationalen Vergleich verschiedener Armutsindikatoren erreicht Deutschland im EU-Vergleich stets mittlere bis gute Platzierungen. Dieser Befund gilt allerdings nicht für alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen.

Wie seit langem bekannt, hängt das Armutsrisiko vor allem von zwei ineinandergreifenden Faktoren ab: Bildung und Erwerbstätigkeit. Je niedriger das Bildungsniveau, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, nur einen schlecht bezahlten Job zu bekommen oder immer wieder arbeitslos zu werden. Dieser Zusammenhang ist in Deutschland insbesondere bei Einwanderern und deren Nachkommen festzustellen:

Von den geringqualifizierten Migranten waren im Jahr 2007 fast 28 Prozent armutsgefährdet – eine annähernd doppelt so hohe Quote wie unter den Einheimischen mit vergleichbarem Bildungsstand.

Die Fehler und Fehlentwicklungen im Aufschwung 2003 bis 2008 sind damit benannt; jetzt gilt es, daraus die Lehren zu ziehen und einen stringenten Wachstumskurs einzuhalten. Das IW Köln fordert in seiner Agenda 20D Folgendes:

Den Zugang zu Arbeit erleichtern

Die Armutsindikatoren zeigen es: Jede Form von Arbeit ist besser als der Bezug staatlicher Hilfen. Voraussetzungen für mehr Arbeit sind folglich nicht nur eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik, eine ausreichende Lohndifferenzierung nach Qualifikation, eine größere Rechtssicherheit beim Kündigungsschutz – etwa durch Abfindungsmodelle – und der Verzicht auf gesetzliche Mindestlöhne.

Nötig ist vielmehr auch, die Arbeitsmarktpolitik ganz darauf zu konzentrieren, Erwerbsarbeit zu schaffen und zu fördern. Dies gilt vor allem für die Ausgestaltung der „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ (Arbeitslosengeld II). Hier muss zum Beispiel die Anrechnung von Hinzuverdiensten linear verlaufen, und nicht wie heute sprunghaft – mit der Folge, dass sich Arbeit für viele gar nicht lohnt.

Der präventive Ansatz, mit den Geldern der Arbeitsmarktpolitik auch die Verbesserung der Ausbildungsreife und Berufsorientierung zu finanzieren, ist gut und ließe sich systematisieren, indem die derzeitigen Programme auf den Feldern Berufsorientierung, Berufsvorbereitung, Ausbildungsförderung und Integrationshilfen gebündelt werden.

Das Bildungsniveau erhöhen

Bildung wirkt wie eine Versicherung gegen sozialen Abstieg und erhöht gleichzeitig die Chancen auf besser bezahlte Jobs. Migranten und Kinder aus Familien mit niedrigem Bildungsniveau sollten deshalb bereits im Kindergarten und in der Ganztagsschule individuell gefördert werden, um so eventuellen späteren Defiziten vorzubeugen.

Um den Bildungsstand der Bevölkerung insgesamt zu erhöhen, müssen auch Reformen im Bildungssystem selbst erfolgen. An den Schulen zum Beispiel könnte die am Dienstalter ausgerichtete Vergütung der Lehrer in ein ziel- und leistungsorientiertes Vergütungssystem überführt werden. Wichtige Bausteine sind auch mehr Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Bildungsgängen und ein erleichterter Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte.

Insbesondere für Jugendliche aus einkommensschwachen Haushalten können Dauer und Kosten des Studiums dem Gang an die Hochschule entgegenstehen. Deshalb braucht vor allem diese Gruppe ausreichende Angebote zur Studienfinanzierung.

Das Wachstum hängt mehr denn je davon ab, ob es Deutschland gelingt, seine niedrigen Absolventenzahlen in den MINTFächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zu erhöhen. Dazu müssen mehr Lehrkräfte eingestellt und die Studienbedingungen an den Hochschulen verbessert werden.

Den Staatshaushalt investiv sanieren

Die ausufernde Verschuldung der öffentlichen Haushalte durch die neu geschaffene Schuldenbremse im Zaum zu halten, ist gut – trotzdem wird sich der Konsolidierungsdruck in den nächsten Jahren drastisch erhöhen. Der nötige Schuldenabbau darf aber nicht über Steuererhöhungen erfolgen, denn das würde die Wachstumsbedingungen verschlechtern.

Der bessere Weg führt über konsequentes Sparen auf der Ausgabenseite, was sogar Spielräume für Steuersenkungen erschließen kann. Zum steuerpolitischen Minimalprogramm für die nächsten Jahre gehört die Abschaffung der kalten Progression in der Einkommensbesteuerung.

Vertrauen schaffen

Die Finanzkrise hat gelehrt, dass nachhaltiges Wachstum ohne Vertrauen nicht möglich ist – zusammen mit sozialen Bindungen, Werten und Normen bildet es das Sozialkapital einer Gesellschaft. Der Staat kann Vertrauen durch gute Ordnungspolitik fördern; dazu gehören sichere Eigentumsrechte, verlässliche Rahmenbedingungen sowie transparente und nachvollziehbare Regeln.

Was den Finanzmarkt angeht, braucht Deutschland eine unabhängige Bankenaufsicht, die ihrerseits durch eine ebenfalls unabhängige wissenschaftliche Kommission kontrolliert wird. Und unabhängig heißt in letzterem Fall: unabhängig von der Bankenaufsicht, der Politik und der Wirtschaft.


*) vgl. Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hrsg.): Agenda 20D – Wege zu mehr Wachstum und Verteilungseffizienz, IW-Studien, Köln 2009, 304 Seiten, 52 Euro. Bestellung über Fax: 0221 4981-445 oder unter: www.divkoeln.de

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