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Fachartikel, 06.02.2008
360 Grad Feedback
Die Führungskräfte- und Personalentwicklung stimulieren
Was kann ich aus Sicht meiner Mitarbeiter, Kollegen und Vorgesetzten gut und was weniger gut? Das wissen Führungskräfte oft nicht. Entsprechend schwer fällt es ihnen, ihr Führungsverhalten gezielt zu verbessern. Genauso wie die Führungskräfte tappt auch die Personalentwicklung oft im Dunkeln, deren Angebote dann am eigentlichen Bedarf vorbeigehen. Deshalb haben zahlreiche Unternehmen das sogenannte 360-Grad-Feedback eingeführt, bei dem die Führungskräfte von mehreren Seiten eine Rückmeldung über ihr Verhalten erhalten.
Prof. Dr. Oswald Neuberger ist bekannt für seine klare Sprache. Entsprechend pointiert äußerte sich der Arbeits- und Organisationspsychologe vor einigen Jahren über das 360°-Feedback, bei dem Führungskräfte von ihren Vorgesetzten, Mitarbeitern und Kollegen und zuweilen auch Kunden und Lieferanten eine Rückmeldung über ihr (Führungs-)Verhalten erhalten. Der inzwischen emeritierte Hochschullehrer lehnte die „Rundumbeurteilung“ von Führungskräften „rundum ab“ und verglich das 360°-Feedback mit einem Panoptikum.

Ein Panoptikum ist ein als Rundbau konzipiertes Gefängnis, in dessen Mittelpunkt ein Wachturm steht. Von dort können die Wärter alle Zellen kontrollieren. Die Gefangenen sehen die Wärter jedoch nicht. Deshalb fühlen sich die Gefangenen ständig beobachtet und verhalten sich so, wie sie glauben, dass dies erwünscht sei. Ähnlich verhielte es sich beim 360°-Feedback kritisierte Neuberger. Nur dass dort an die Stelle der Wärter das „höhere Management“ trete, das aus den „Gefangenen“, sprich Mitarbeitern „unmündige, dressierte und kontrollierte Befehlsempfänger“ machen wolle.

Eine harsche Kritik! Trotzdem nutzen heute zahlreiche Unternehmen dieses Instrument – wenn auch häufig in individueller Form. Und in vielen Betrieben hat sich das 360°-Feedback zu einem etablierten Instrument der Personal- sowie Organisationsentwicklung entwickelt. Warum? Unter anderem, weil Neubergers Kritik am 360°-Feedback die betriebliche Realität auf den Kopf stellt. Denn anders als im Panoptikum sind im Unternehmensalltag nicht „die Gefangenen“, sprich Mitarbeiter, dem permanenten überwachenden Blick der „Wärter“, sprich Führungskräfte, ausgesetzt. Vielmehr ruht der Blick der Mitarbeiter auf den Führungskräften. Sie beobachten genau, was jene wie tun – unter anderem, weil die Führungskräfte für sie eine Vorbild- und Leitfunktion haben. Entsprechend wichtig ist es, dass die Führungskräfte ein ihrer Position und Funktion angemessenes Verhalten zeigen.

Eine zentrale Aufgabe von Führungskräften ist, sicherzustellen, dass ihre Mitarbeiter effektiv (zusammen-)arbeiten (können); des Weiteren dafür zu sorgen, dass die Zusammenarbeit mit den anderen Unternehmensbereichen funktioniert. Nur selten erhalten Führungskräfte im Arbeitsalltag aber eine klare und nachvollziehbare Rückmeldung, inwieweit sie diese Aufgaben adäquat wahrnehmen. Entsprechend schwer fällt es ihnen, sofern nötig, ihr Verhalten gezielt zu verändern. Just dieses Manko soll durch das 360°-Feedback unter anderem behoben werden.

Kernfrage: Welche Entwicklung will ich anstoßen?

Dabei gilt es jedoch festzuhalten: Das 360°-Feedback ist nur ein Instrument. Es ist ein Werkzeug, um personale und/oder organisationale Entwicklungsprozesse zu flankieren. Deshalb wird es von Unternehmen in der Regel nur anlassbezogen eingesetzt. Mit seinem Einsatz sind also konkrete Entwicklungsziele verbunden.

Hierzu ein Beispiel: Vor einigen Jahren erkannte ein Energieversorger, dass sich aufgrund der Liberalisierung des Energiemarktes neben der Struktur des Unternehmens auch dessen (Führungs-)Kultur ändern muss. Das Unternehmen musste sich sozusagen vom reinen Energieproduzenten und -verteiler zu einem modernen Energiedienstleister entwickeln. Also startete das Unternehmen ein „Fit For Future“ (3F), genanntes Personal- und Organisationsentwicklungsprogramm.

Mit diesem mehrstufigen Programm sollten in dem Unternehmen unter anderem flexible, sich den Marktveränderungen anpassende Organisationsstrukturen geschaffen werden. Außerdem sollte die Teamarbeit und die bereichsübergreifende Zusammenarbeit stimuliert werden.

Den Verantwortlichen war klar: Inwieweit wir diese Ziele erreichen, hängt vor allem davon ab, wie stark die Führungskräfte den Wandel promoten und wie sie ihre Mitarbeiter führen. Deshalb entwickelte das Unternehmen auch neue Führungsleitlinien, die stärker auf die Eigenverantwortung der Mitarbeiter setzen und von den Führungskräften ein Dienstleistungsbewusstsein verlangen.

Durch den mit dem Entwickeln der neuen Führungsleitlinien verbundenen Diskussionsprozess veränderte sich bereits das Selbstverständnis der Führungskräfte. Das bedeutete aber noch keineswegs, dass sie nun alle das gewünschte Führungsverhalten zeigten. Deshalb gelangte die Unternehmensleitung zur Erkenntnis: Wir brauchen ein Instrument, das unseren Führungskräften eine dokumentierte Rückmeldung über ihr Verhalten gibt. Also wurde ein regelmäßiges Management-Audit auf Basis eines 360°-Feedbacks eingeführt. Bei diesen im zwei Jahres-Rhythmus stattfindenden Audits erhalten die Führungskräfte stets von mehreren Personengruppen eine (schriftliche) Rückmeldung über ihr (Führungs-)Verhalten – von ihren Mitarbeitern, ihren Kollegen und ihren Vorgesetzten.

Kein Auswahl-, sondern ein Förderinstrument

Der Energiekonzern nutzt das 360°-Feedback also als Personal-, Organisations- und Managemententwicklungsinstrument – jedoch nicht als Beurteilungsinstrument. Und dies obwohl bei der Befragung durchaus das Verhalten der Führungskräfte beurteilt wird. Anders als bei Beurteilungsgesprächen haben die Ergebnisse des 360°-Feedbacks aber keine Auswirkungen auf die Entlohnung und die berufliche Entwicklung.

Dies ist schon deshalb nicht möglich, weil die Feedback-Ergebnisse weder den Vorgesetzten der beurteilten Führungskräfte noch der Personalabteilung mitgeteilt werden. Ebenso ist es in fast allen Unternehmen, die das Instrument 360°-Feedback für die Führungskräfteentwicklung nutzen. Zumeist erhalten das Top-Management und Personalabteilung nur einen Gesamtbericht, in dem die Ergebnisse der einzelnen Items und Fragen kumuliert dargestellt sind. Hieraus können sie dann ersehen,

  • wie stark die einzelnen Management-Skills in ihrer Organisation ausgeprägt sind,
  • wo gegebenenfalls noch Defizite bestehen und
  • welche Fördermaßnahmen angeboten werden sollten.

Dass die zugesicherte Anonymität gewahrt bleibt, ist wichtig. Denn sonst würde das Instrument in der Regel nicht akzeptiert. Das heißt, die Mitarbeiter würden sich entweder weigern, die Fragebogen auszufüllen oder in ihnen geschönte Antworten geben, wodurch das Feedback wertlos wäre. Und die Führungskräfte? Sie würden auf die Mitarbeiter zumindest einen subtilen Druck ausüben, sie möglichst positiv zu bewerten – zumindest wenn vom Ergebnis ihre Bezahlung und ihr weiteres berufliches Fortkommen abhinge. Deshalb muss bereits beim Konzipieren des Verfahrens darauf geachtet werden, dass die Anonymität gewahrt bleibt.

Ein Beispiel aus der betrieblichen Praxis

Wie die Einführung und Durchführung des 360°-Feedback erfolgen kann, sei am Beispiel eines Technologiekonzerns erläutert, der dieses Tool seit fünf Jahren als Personal- und Organisationsentwicklungsinstrument nutzt. Nachdem die Grundsatzentscheidung gefallen war, wurde eine Projektgruppe gegründet, der neben Personal- und Organisationsentwicklern auch Vertreter der Bereiche angehörten. Diese definierte zunächst die Befragungsbereiche und Themenschwerpunkte. Außerdem wurden die Bewertungskriterien und die Teilnehmergruppen bestimmt. Dann entwickelte die Projektgruppe einen modular aufgebauten Fragebogen.

Nachdem die Fragebogen entwickelt waren, wurden alle Beteiligten, Feedbackgeber und -nehmer, zu einer Kick-Off-Veranstaltung eingeladen. Dort erläuterte das Management, warum es das 360°-Feedback einführen möchte. Außerdem wurde das Verfahren und Vorgehen erläutert und mit den Teilnehmern diskutiert. Anschließend verteilten Mitarbeiter der Unternehmensberatung, die an dem Prozess beteiligt war, die Fragebogen. An das Beratungsunternehmen, also einen externen Partner, sollten die Feedbackgeber auch die ausgefüllten Bögen zurücksenden. Dort wurden sie bezogen auf die einzelnen Führungskräfte und die verschiedenen Feedbackgeber-Gruppen (Mitarbeiter, Kollegen und Vorgesetzte) ausgewertet. Letzteres ist wichtig, weil diese aufgrund ihrer Position und Funktion im Unternehmen zum Beispiel bezüglich des Kommunikationsverhaltens einer Führungskraft unterschiedliche Erwartungen haben. Deshalb müssen die Differenzen sichtbar bleiben.

Ergebnisse besprechen und Maßnahmen vereinbaren

Nachdem die Auswertungen vorlagen, traf sich der externe Berater mit den einzelnen Führungskräften zu Vier-Augen-Gesprächen und besprach mit ihnen die Ergebnisse. Sie schauten gemeinsam, wo Selbst- und Fremdbild der Führungskraft auseinander klaffen und der größte Erklärungs- und Entwicklungsbedarf besteht. Außerdem definierten sie gemeinsam die Themen, die die Führungskraft im anschließenden Workshop mit ihren Mitarbeitern erörtern möchte.

In diesen Workshops stellte die betreffende Führungskraft ihren Mitarbeitern jeweils zunächst die relevanten Ergebnisse des 360°-Feedbacks vor. Dann bat sie diese, um mögliche Erklärungen, wie einzelne Ergebnisse zustande kommen. Dabei war stets ein externer Berater als Moderator anwesend. Er strukturierte das Gespräch – unter anderem, um zu vermeiden, dass sich die Beteiligten in Details oder in der Vergangenheitsbewältigung verlieren.

Der Moderator stärkte aber auch den Mitarbeitern und Führungskräften den Rücken, offen Feedback zu geben. Denn dies erfordert in den Workshops oft Mut. Denn anders als bei der schriftlichen Befragung selbst wird in ihnen zuweilen die Anonymität durchbrochen. Schließlich kann sich eine Führungskraft, wenn ein Mitarbeiter anhand von Beispielen aus dem Alltag erläutert, wie eine Beurteilung zustande gekommen sein könnte, vorstellen, welche Bewertung ihm der betreffende Mitarbeiter gab. Deshalb muss, damit solche Workshops funktionieren, ein Mindestmaß an Vertrauen zwischen Mitarbeitern und Führungskraft bestehen.

Der externe Unterstützer sollte auch darauf achten, dass während des Workshops und/oder im 4-Augen-Gespräch mit der Führungskraft, Maßnahmen vereinbart werden, wie erkannte Mängel im Führungsverhalten und in der Zusammenarbeit beseitigt werden können. Denn das 360°-Feedback ist kein Selbstzweck. Es soll vielmehr Entwicklungsprozesse anstoßen oder forcieren.

Entwicklungsprozesse steuern und evaluieren

Ein ähnliches, wie das oben skizzierte Verfahren praktizieren viele Unternehmen, die mit dem Instrument 360°-Feedback arbeiten. In der Regel führen sie die mit dem 360°-Feedback verbundene Befragung mehrmalig, wenn nicht gar regelmäßig durch – zum Beispiel alle zwei Jahre. Warum? Als Organisationsentwicklungsinstrument hat das 360°-Feedback einen Verlaufscharakter. Setzt man es nur einmalig ein, werden keine Veränderungen sichtbar. Folglich können die Resultate auch nicht genutzt werden, um den Veränderungsprozess zu steuern.

Damit das Instrument 360°-Feedback erfolgreich in Unternehmen eingeführt und etabliert werden kann, müssen gewisse Voraussetzungen gegeben sein. So sollte es zum Beispiel Promotoren auf der ersten Hierarchieebene geben, die sich mit dem Instrument identifizieren und den Prozess – auch nach der ersten Runde – aktiv begleiten. Fehlt diese Unterstützung oder besteht gar Widerstand aus der ersten Reihe, ist das Projekt zum Scheitern verurteilt. Auch der Betriebsrat sollte früh eingebunden werden. Sonst werden in der Organisation unter anderem die von Neuberger formulierten Vorurteile kolportiert.

Wird der Betriebsrat früh eingebunden und wird den Mitarbeitern offen das „Wie, Wo, Was, Warum“ kommuniziert, dann ist Bereitschaft zur aktiven Beteiligung in der Regel hoch. So berichten Unternehmen zum Beispiel immer wieder, dass mehr als 90 Prozent aller potentiellen Feedbackgeber (freiwillig) die Fragebögen ausgefüllt hätten. Und häufig konstatieren ihre Mitarbeiter schon nach der ersten Feedbackrunde deutliche Verbesserungen in der Zusammenarbeit mit der Führungskraft. Deshalb ist 360°-Feedback kein reines Diagnoseinstrument. Es ist zugleich ein Instrument, um die interne Diskussion über Formen der Zusammenarbeit zu stimulieren und Veränderungen im Führungsverhalten auszulösen.

Zunehmend setzen Unternehmen das 360°-Feedback auch als reines Personalentwicklungsinstrument ein – zum Beispiel bei jungen Führungskräften mit Entwicklungspotential. Diesen unterbreiten zahlreiche Unternehmen das Angebot, sich ein individuelles 360°-Feedback erstellen zu lassen. Wer ihnen Feedback gibt, entscheiden die betreffenden Personen dabei zumeist selbst – in Abstimmung mit einem externen Berater, der sie bei ihrer Entwicklung begleitet. Mit diesem erörtern sie auch in anschließenden Einzelcoachings die Ergebnisse, um daraus mögliche Entwicklungsschritte und -maßnahmen abzuleiten. Ob die Führungskräfte dieses Förderangebot seitens ihres Unternehmens nutzen, das entscheiden diese weitgehend selbst. Denn Freiwilligkeit lautet eine Grundmaxime beim 360°-Feedback – ganz gleich, ob es primär als Personal- oder Organisationsentwicklungsinstrument genutzt wird.

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