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Kolumne
Alles was Recht ist, 28.06.2011
Crash per Mausklick
Rating Agenturen – gefährliche Auslaufmodelle?
„Warnschuss gegen Ratingagenturen: EU entzieht Lizenz zu töten“, titelte am Montag n-tv.de. Hierfür wurde es auch allerhöchste Zeit!

„Europa übt den Befreiungsschlag. In Zukunft wird es sich nicht mehr den Beurteilungen der US-amerikanisch dominierten Agenturen Moody’s, Standard & Poor’s und Fitch blindlings ergeben. Zu eng sind deren Bewertungen mit nationalen Interessen verknüpft“, so Diana Dittmer am Montag in einem Beitrag auf n-tv.

Die Zweifel am Wert und Nutzen von Ratings und den Modellen und der Theorie des Risk Managements an sich mehren sich. Die Gefahr der Manipulation von Volks- und Betriebswirtschaft wächst. Bereits im März 2009 schrieb die Mailänder Zeitung Corriere della Sera: „Rating Agenturen? Sprechen Sie nicht übel vom Toten“, als es um die Frage ging, warum ein Unternehmen wie Lehman Brothers und andere so brutal abstürzt, obwohl es vorher noch dreifach A geratet wurde.

Zunehmende globale Ungewissheit sowie der sozioökonomische Kontext unserer Zeit wird nicht nur klassischen Ratingkonzepten, sondern weitgehend allen herkömmlichen Risiko-Ratingmanagement- und Business Intelligence-Tools ein Ende setzen. Ratings beurteilen meist Systeme. Systeme lassen sich aber nur halbwegs objektiv beurteilen, wenn man die sie steuernden Systemparameter, also die Cromosomen ihrer Genetik kennt, versteht und diese ohne Manipulation in ihrer vernetzten Interdependenz und Auswirkung bewertet.

Das Risiko des Ratings liegt – vereinfacht ausgedrückt - im Charakter einer Art „1-Klick-Optimierung“ wie wir sie von Softwareprogrammen kennen. Bei einem Mausklick wird eine Black-Box-Routine ausgeführt, die wir meist nicht kennen und nachvollziehen können, ihr aber einfach vertrauen. Das Konzept des Ratings als Instrument der Synthese ist im Kern vergleichbar. Das Rating bildet eine auf einen aggregierten Wert fokussierte Analyse, aus dem der Gesundheitszustand eines Unternehmens oder einer Volkswirtschaft abgeleitet werden. Dabei kann die gleiche Analyse ganz anders ausfallen, wenn die Bewertungsparameter per se wie auch der Bewertungsgrad unter anderen Blickwinkeln betrachtet werden. Ratings, von mächtigen Agenturen erstellt, genossen den Vorzug einer Scheinwahrheit, die die Mühe des eigentlich geforderten differenzierten und intensiven Auseinandersetzen-Müssens mit den relevanten Steuerungs-Parametern eines Systems, dem Daten- Informationsuniversum sowie Umfeldhintergründen ersparte.

Entgegen allgemeinem Glauben, ist ein Rating jedoch keine „Empfehlung“ noch eine Form der Garantie der Glaubwürdigkeit. Ein Rating ist per Definition lediglich eine Einschätzung der Wahrscheinlichkeit der Solvenz bzw. Insolvenz, d.h. der Gesundheit eines Unternehmens, einer Volkswirtschaft etc. in einem bestimmten Zeitmoment. Für Ratings bewerten Agenturen regelmäßig statistische Informationen und nutzen statistische Modelle, wie sie z.B. die hoch entwickelten „Monte-Carlo-Simulationen“. Meist werden Informationen über die jüngste Geschichte einer Firma unter der stillschweigenden Annahme herangezogen, dass diese Informationen genügen, die Zukunft durch geglättete Extrapolation vorherzusagen. In turbulenten, instabilen und globalen Wirtschaftssystemen, in denen jeder Tag neue Rahmenbedingungen bringen kann, ist diese Vereinfachung höchst fraglich und in sich selbst risikoreich.

Rating ist meist auch ein hochsubjektiver und damit – Böswilligkeiten nicht unterstellt – durchaus manipulativer Prozess. Die zwei Hauptquellen dieser Subjektivität sind der Analytiker selbst und die von ihm eingesetzten mathematischen Modelle zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit der Insolvenz. Gerade der mathematische Bestandteil des Prozesses ist die Hauptschwäche des Konzeptes eines Ratings. Ein mathematisches Modell erfordert immer eine Reihe von Annahmen oder Hypothesen, um seine Formulierung zu ermöglichen. In der Praxis bedeutet dies, dass bestimmte Inhalte der Realität geopfert werden müssen. Bestimmte Phänomene sind schwer zu modellieren, so dass man sie einfach vernachlässigt und hofft, dass ihre Auswirkungen unwesentlich sind. In langen Perioden der Kontinuität mag das funktionieren, doch im Falle einer in hohem Maße instabilen Wirtschaft und  plötzlicher Unstimmigkeiten können diese näherungsweise Berechungen fatal sein. Damit bringen die Modelle neben der tatsächlichen Unsicherheit eine zusätzliche, durch das mathematische Modell selbst ausgelöste, auf. Das unvermeidliche Resultat ist die Erhöhung der Risiken. Um die Wirtschaft aber in ihrer Komplexität und damit realen Risikostruktur abzubilden, sind Modelle eben deshalb schon fragwürdig, weil sie die Komplexität und Unsicherheit erhöhen statt  verringern. Komplexität beginnt immer dort, wo lineare Plan- und Vorhersehbarkeit aufhören und Unvorhersehbarkeit, Überraschung, hohe Varietätenvielfalt und gar Chaos vorherrschen und Systeme neigen, sich ihrer Steuerbarkeit zu entziehen, weil sie eigenständig zu neuen Aggregatzuständen streben. Die Komplexitätsfalle wird immer größer. Und genau bei der Problematik der Erfassung und dem Umgang mit „Komplexität“ beginnt die Lösung des Problems.

Die klassischen Ratings der großen Agenturen sind nicht in der Lage, Komplexität zu raten. Vielmehr kommen sie aus linearen Welten, die Vereinfachungen und Glättungen zu lassen, weil Extrapolierbarkeit von Entwicklungen durchaus möglich sind. Wollten, vorausgesetzt sie hätten dazu das Wissen und die Tools, Ratingagenturen komplexe Interdependenzen messen und bewerten, wären sie ob des Aufwandes zu teuer für die relativ preiswerte „1-Klick-Beurteilung“ und hätten ihren eigenwirtschaftlichen Zweck verfehlt.

In der jüngeren Vergangenheit ist die starke Verbreitung von Computermodellen im Risk Management zu beobachten. Ein schwieriges Computermodell erfordert zur individuellen Erfassung einzigartiger Zusammenhänge und Komplexitäten immer einen enormen Validierungsaufwand, der in vielen Fällen nicht einfach durchgeführt werden kann. Die Komplexität der naturgegebenen komplexen Problemstellungen übertrifft zudem die Kapazität jedes möglichen Modells. Ich betone daher die Tatsache, dass der Verbrauch von Modellen eine bedeutende Quelle der Unsicherheit aufgrund der Turbulenz der globalen Wirtschaft manifestiert, die durch die Subjektivität der Analytiker weiter verstärkt wird. Erstaunlich ist auch der Versuch einer über eine bestimmte Zeitspanne präzise Bewertungsaussage treffen zu wollen. Schon der Grad von differenzierter Auflösung – d.h. die Zahl von Bewertungskategorien – ist in einer turbulenten und immer komplexeren Wirtschaft nicht gerechtfertigt.  Ist es nicht genau dieser Versuch von Präzision, der in einem in hohem Grade unsicheren und unvorhersehbaren Wirtschaftsumfeld viele Zweifel an dem traditionellen Rating- und Risk Management-Konzepten aufkommen lassen muss? Das ganze Konzept ist fehlerhaft, denn es versucht trotz vieler Zweifel eine Bewertung von Etwas, das aufgrund seiner Komplexität nicht in einem Faktor ist nach dem Motto kulminiert zu bewerten: „Wir tun zwar etwas Falsches, aber das hoch präzise“.

Zur Veranschaulichung sei ein Vergleich mit einem Automobil-Crash-Test gezogen: Auch ein Automobil wird hinsichtlich seiner Crash-Sicherheit geratet. Allerdings wird die Sicherheit durch die Zahl von Sternen – 1 bis 5  – ausgedrückt, wobei 5 die höchste Sicherheitsstufe darstellt. Ist ein Auto mit 5 Sterne-Rating absolut crashsicher?  Ein Crashtest wird in einem Testlabor unter klinischen Bedingungen durchgeführt. Was auf der Straße geschieht, ist eine andere Geschichte. Ein Crashtestergebnis erklärt, was unter den sehr exakten, aber nicht unbedingt realen Bedingungen geschieht. In der Wirklichkeit stößt ein Auto mit einem anderen Auto mit einer unbekannten Geschwindigkeit, von unbekannter Masse, in einem unbekannten Winkel zusammen, und nicht mit einer im Labor fixierten glatten Wand bei 55 km/h und 90 Grad Zusammenstoßwinkel. So versucht ein Crashtest etwas über ein mögliches künftiges Fahrzeugverhalten zu vermitteln, das praktisch so kaum jemals eintritt. Wie bei Unternehmens-Ratings benutzen die Crashtests Computer-Crashsimulationen auf Basis stochastischer Modelle und versuchen darüber exakte Antworten für unbekannte zukünftige Geschehnisse zur Verfügung zu stellen.

Auf den Punkt gebracht ist es nicht möglich oder zumindest extrem schwierig, die grundlegende Eigenschaft unserer Wirtschaft als ein sich schnell änderndes und hoher Komplexität unterliegendes, turbulenteres Ökosysteme entscheidungssicher abzubilden und vorherzusagen. Wer dies wie die Ratingagenturen mit entsprechender religiöser Macht dennoch versucht bzw. tut, läuft Gefahr die nächste Krise im Sinne einer self fullfilling prophecy heraufzubeschwören.

ZUM KOLUMNIST
Über Prof. Dr. Christoph Schließmann
Prof. Dr. Christoph Ph. Schließmann ist Wirtschaftsanwalt und Fachanwalt Arbeitsrecht in Frankfurt am Main und berät und begleitet seit über 20 Jahren Unternehmen, Unternehmer, Aufsichtsräte, Vorstände und Geschäftsführer in Fragen der Unternehmens-, ... mehr
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