Pressemitteilung, 16.10.2006 - 10:45 Uhr
Perspektive Mittelstand
YouTube und der Untergang des Medienmärchenlandes – Bild-Chef Diekmann über den Siegeszug von Web 2.0
(PM) , 16.10.2006 - Bonn/Lindau - Für Kai Diekmann, Chefredakteur der Bild-Zeitung www.bild.t-online.de, war der Kauf des Video-Portals YouTube www.youtube.com durch den Suchmaschinenanbieter Google die wichtigste Nachricht der Woche: „YouTube ist eine Firma mit nur 67 Angestellten. Sie bietet Filmemachern eine digitale Plattform für ihre Videoclips: Filme von Hochzeitsfeiern, Sketchen, Playback-Gesängen, Tierfilmen, Karikaturen, Clips von Sportunfällen. Einer der erfolgreichsten Videoclips läuft unter dem Titel „Sad“: Er stellt während einer Dauer von vier Minuten ein junges Mädchen dar, die auf ihrem Bett liegt, traurig und still in die Kamera starrt - kein Wort, keine Musik, keine Kamerabewegung. YouTube wurde vor nur 16 Monaten als Start-up mit wenigen Mitarbeitern gegründet. Aber der Preis, den Google zahlt, beläuft sich auf 1,3 Milliarden Euro“, sagte Diekmann beim internationalen Agenda Setting-Kongress des Forschungsdienstes Media Tenor www.mediatenor.de auf dem Petersberg in Bonn. Den Grund für den hohen Preis sieht Diekmann in dem starken Markeimage, dass sich YouTube in kürzester Zeit in der Internet-Gemeinschaft erworben habe. Das Video-Portal werde täglich von mehr als 100 Millionen Nutzern besucht. „Warum erzähle ich Ihnen hier etwas über Videoclips mit traurigen Mädchen, jonglierenden Hunde oder mittelmäßige Michael Jackson-Imitatoren? Was haben das mit Agenda Setting zu tun? Leider sehr viel! Das Ganze weist auf einen grundlegenden Wandel der Medienlandschaft hin. In dem wegweisenden Buch ‚Die öffentliche Meinung’ von Walter Lippmann, 1922 erschienen, wurden die damals gültigen Regeln für das Agenda Setting-Prinzip dargelegt. In jenen Tagen war die Welt scheinbar noch in Ordnung. Zeitungsartikel genossen den gleichen Wert und Respekt wie Parlamentsakten. Der Leser war passiv. Er war der Empfänger ohne eine eigene Stimme. Die öffentliche Meinung wurde von den führenden Medien-Kommentatoren bestimmt, obwohl Wahlen manchmal aufdeckten, dass Wähler nicht immer die Ansichten der Meinungsführer teilten. Dieses Medienmärchenland hat sich geändert“, führte Diekmann aus. Traditionelle Medien müssten ihre Deutungshoheit mit neuen Meinungsplattformen teilen: Blogs, Chatrooms, Foren. Vor fünf Jahren wollte kaum jemand eine Internet-Plattform benutzen, um die neuesten Nachrichten abzurufen. „Das lag in erster Linie an den zu langsamen Übertragungsraten. Aber dieses Problem hat sich erledigt“, so Diekmann. Und mit der Web 2.0-Technologie bekomme die Massenkommunikation über das Internet eine geradezu revolutionäre Dynamik. Der satirische Hitler-Film „Der Bonker“ des Karikaturenzeichners Walter Moers wurde von einem deutschen Fernsehkanal ausgestrahlt und erreichte 800.000 Zuschauer. „Aber im Internet, auf YouTube, MyVideo und anderen Plattformen lag die Zahl um ein Vielfaches über dieser Zahl. Das Internet besiegte das Fernsehen“, bemerkte der Bild-Chef. Ähnliches spiele sich ab mit Informationen über Kochrezepte, mit der Bewertung von Autohändlern, Gaststätten oder Fluglinien. „Interessanterweise haben alle diese Plattformen eine Sache gemeinsam: eine hohe Glaubwürdigkeit. Hinter den Berichten von Medienprofis vermuten die Menschen häufig unehrliche Motive. Aber die Blogwelt wird als das Mutterland der zuverlässigen Informationen angesehen, die vollständig authentisch zu sein scheint“, sagte Diekmann. Demgegenüber werde die professionelle Presse häufig im Internet durch negative Anmerkungen über „bezahlten Journalismus“ belastet. „Meine Vermutung ist, dass die direkten persönlichen Kontakte über das Internet Ursache dieses Eindrucks der authentischen und zuverlässigen Informationen sind“, so Diekmann. So überrasche es nicht wirklich, dass Gerüchte, Verschwörungstheorien und offensichtlich falsche Legenden im Netz über Jahre überleben. Benutzer würden diese falschen Informationen einfach adaptieren und weiterleiten – alles dank dieser geheimnisvollen Glaubwürdigkeit, die dem Netz zugeschrieben werde: „Wir sollten uns nicht täuschen lassen: Es ist nicht so, das nur einfache oder ungebildete Leute auf solche Informationen vertrauen. Wir sind alle gleich - wir richten uns nach Empfehlungen von Freunden, Familienmitgliedern oder Nachbarn. Mit anderen Worten: wir vertrauen Laien mehr als Profis; ob wir ein Auto kaufen, eine Gaststätte auswählen oder ein Hotel“. Niemand könne zur Zeit eindeutig erklären, wie sich dieser Prozess auf die Formung der öffentlichen Meinung auswirke. Recherche und Überprüfung von Tatsachen, der klassische Job der traditionellen Medien, seien vielen Internetforen, Weblogs und Chatrooms unbebannt. Die emotionale und persönliche Komponente sei auch ein Schwachpunkt des Internets. „Wo Gefühle vorherrschen, sind Argumente nicht wichtig“, warnte Diekmann. Beim Thema „Agenda Setting“ werde nach Ansicht des Internetexperten Michael Sander deutlich, dass sich die schreibende Zunft große Zukunftssorgen machen müsse. „Nachdem die musizierende Zunft schon keine Antwort auf das Internet gefunden hat, ist es fraglich, ob die Printmedien dies besser machen werden“, so Sander, Geschäftsführer des Lindauer Beratungshauses TCP Terra Consulting Partners www.terraconsult.de. Das Web 2.0 werde quasi als Schreckgespenst an die Wand gemalt, weil jetzt jeder Internet-Nutzer zum Journalisten in eigener Sache werde und gleichzeitig jedem Chatroom-Nutzer ein höherer Vertrauensvorschuss gewährt werde als Pulitzer-Preis-Gewinnern. Die Medien-Branche beklage vordergründig den Vertrauensvorschuss der Internet-Gemeinschaft gegenüber professionelle ausgebildeten Journalisten. „Leider hört nach dieser Beobachtung die weitergehende Analyse auch schon auf. Wie will denn die Medien-Branche ihre Positionierung und Existenzberechtigung in Zeiten des Web 2.0 finden, wenn sie nicht die richtigen Fragen stellt? Eine Kernfrage ist doch: Woher kommt es denn, dass die viele Menschen das Vertrauen in die sogenannten Profis in Politik, Medien, Sport und Wirtschaft verloren haben? Eine Politik-Elite, die seit Jahrzehnten die wahren Reform-Herausforderungen der Gesellschaft ignoriert und gleichzeitig eine Wirtschaftselite, deren führende Köpfe durch Victory-Zeichen oder Bestechlichkeit auffallen, hat in Verbindung mit einer rein quoten-orientierten Medienlandschaft enorm zu dem Vertrauensverlust beigetragen“, moniert Sander. Deshalb wende sich die breite Bevölkerung von den Meinungsführern ab. „Dieser Prozess ist schon seit etlichen Jahren zu beobachten, nur wie es der technische Zufall will, gibt es mit dem Internet jetzt ein Medium, wie sich ein Kollektiv untereinander austauschen kann“, erläutert Sander. In einer weitgehend wertelosen Gesellschaft sollten die klassischen Medien dieses Vakuum durch gehalt- und damit wertvolle Beiträge füllen.