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Fachartikel, 25.01.2010
Wider der Komplexität
Zum Sinn und Unsinn in der Unternehmenswelt
Es gibt Menschen (hierzu zählen insbesondere Manager und Theoretiker), die uns permanent erzählen, die Welt sei komplexer geworden und wir müssten lernen, die Komplexität zu steuern. Dabei müsste es zu allererst doch darum gehen, die Komplexität soweit wie irgend möglich zu verringern.

In einem Kloster lebte ein alter Meister, der jeden Tag seine Andacht hielt. Da er nun mehrfach in seiner Andacht von einer Katze gestört wurde, befahl er, die Katze während seiner Andacht anzubinden. Einige Jahre später starb der alte Meister und ein neuer Meister nahm seinen Platz ein. Die Katze wurde weiter während der Andacht angebunden. Wieder einige Jahre später starb die Katze. Um eine Katze während der Andacht anbinden zu können, wurde eine neue Katze gekauft. Im Lauf der folgenden Jahre kamen Besucher aus anderen Klöstern und sahen, dass in diesem Kloster immer eine Katze zur Andacht angebunden wurde. Sie beschlossen, dies für ihr eigenes Kloster zu übernehmen. Einige Jahrzehnte später füllten die Gelehrten dicke Bücher über die liturgische Bedeutung des Anbindens einer Katze während der Andacht.

So weit die Geschichte, die aus Indien kommen soll. Wir können sie beliebig weiter spinnen. Bald wird es nämlich im Kloster die Position des Katzenbetreuers und die des Katzenzeremonienmeisters geben. Dann wird es Tierzüchter geben, die sich auf die Aufzucht von Katzen, die nur für die Andacht geeignet sind, spezialisieren. Und auch Unternehmen, die spezielle Halsbänder zum Anbinden der Katze während der Andacht produzieren. Schließlich werden die örtlichen Einzelhändler mancher Regionen die Schönheit gerade ihrer Katzenzeremonie herausstellen und hoffen, damit zahlungskräftige Pilger anzuziehen. Damit noch nicht genug. Tierschützer entdecken plötzlich die miserablen Bedingungen, unter denen die Klosterkatzen außerhalb der Zeremonie leben,  und erkämpfen ein Gesetz zur artgerechten Haltung der Klosterkatzen usw. usf.

So, und nun stellen Sie sich einmal vor, es würde jemand erscheinen und darauf hinweisen, dass man zur Andacht eigentlich gar keine Katze braucht. Bestenfalls wird er mundtot gemacht – schlimmstenfalls dasselbe ohne „mund“. So viel zur zunehmenden Komplexität in unserer Welt. In Wahrheit handelt es sich dabei aber oftmals um komplexe Luftblasen, die nur aus ihren gegenseitigen Beziehungen heraus leben (und die Tendenz haben, mit jedem Tag komplexer und damit energieraubender zu werden).

Was meine ich mit „aus ihren gegenseitigen Beziehungen leben“? Ich habe Ihnen mit der Katzengeschichte das ganze Bild gezeigt. Der Spezialist für die Katzenleinen kennt aber das ganze Bild überhaupt nicht. Er weiß, dass die Katzen zur Andacht angebunden werden. Er weiß, dass diese Katzenandacht den Klostern Einkommensströme beschert. Er weiß, dass es deshalb für das Kloster wichtig ist, besonders schöne Katzenleinen zu haben. Dann kennt er vielleicht noch die Tierschützer und achtet darauf, dass die Katzenleinen so konstruiert sind, dass sich die armen Tiere keinesfalls den Hals wundscheuern.

Aus diesen Beziehungen zu seinen Kunden (oder, wenn man die Tierschützer einbezieht, seinen Stakeholdern), ergibt sich der subjektive Sinn seiner Tätigkeit. Und dies, obwohl das ganze völlig sinnlos ist.

Das ist genauso bei unserer Katze „Deutsches Steuersystem“ (eigentlich eher ein aufgeblasener Säbelzahntiger). Letztlich geht es doch nur darum, eine bestimmte Menge Geld für Gemeinschaftsaufgaben so einzusammeln, dass die Mehrheit das für einigermaßen gerecht hält. Das ließe sich ziemlich einfach abbilden. Der Rest ist Luft. Und zwar ziemlich viel Luft!

Aber Menschen oder Unternehmen, die in diesem System arbeiten, sehen das anders: Der Sinn eines Steuerberaters ist aus seiner subjektiven Sicht der, seinen Mandanten innerhalb des Systems zu helfen und komplexe Arbeit abzunehmen. Damit kommen wir zu dem merkwürdigen Phänomen, dass an sich sinnlose Dinge im Lauf der Zeit aus bestimmten Perspektiven als sinnvoll erscheinen.
Zwei wesentliche Fragen

Warum ist das mit dem Sinn eigentlich wichtig? Nun, die Antwort ist einfach: Der Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen. Das subjektive Sinngefühl ergibt sich daraus, etwas beizutragen. Etwas beitragen zu können, fühlt sich gut an. Ein Unternehmen, das also etwas Sinnvolles tut, ist ein Unternehmen, in dem man gerne arbeitet und mit dem die Kunden (und Stakeholder) gerne zu tun haben. Sinn macht anziehend!  Auch für tolle Mitarbeiter. Ist doch klar: Die wirklich guten Leute wollen dort arbeiten, wo sie das Gefühl haben, etwas beitragen zu können. Die Mehrheit der etwas intelligenteren und engagierteren Mitarbeiter arbeitet eben lieber beim Produzenten von Windkraftwerken als im Rüstungsbetrieb.

Nun ist der Sinn nicht fest vorgegeben, sondern ergibt sich aus der Perspektive, mit der man etwas betrachtet. Also die Frage: Wie weit zoome ich an das Bild heran oder wie weit trete ich zurück? Das kann in die eine Richtung so weit gehen, dass am Fließband jemand als Sinn definiert: Ich stecke die Schraube ins Loch, damit mein Nachbar die Mutter drauf drehen kann. Das ist ein Beitrag für einen anderen. Und in die andere Richtung kann man über irgendwelche spirituellen Erklärungsmodelle so weit gehen, dass man mit seiner Tätigkeit das Universum verbessert. Das eine Extrem ist subjektiv meist nicht befriedigend, das andere meist nicht nötig.

Aber wenn es darum geht, ein anziehendes Unternehmen zu schaffen, dann ist es doch eher wichtig, eine möglichst große Perspektive zu wählen. Als Architekt kann ich den Sinn meiner Arbeit darin sehen, Häuser zu bauen, die vom Bauherrn abgenommen werden. Oder ich kann den Sinn darin sehen, die Art und Weise des Wohnens und Lebens in meinem (jetzigen oder zukünftigen) Wirkungsbereich menschlicher zu machen. Zwei unterschiedlich große Perspektiven. Zwei unterschiedlich große Anziehungskräfte.

Der Haken ist halt: Wenn man als Anbieter in eine große, komplexe, gesellschaftliche Luftblase (wie das Steuersystem) integriert ist, kann man die Perspektive nicht sehr groß machen, ohne dass die Sinnlosigkeit für alle ersichtlich wird. Dann bleibt nur: Entweder in der kleinen Perspektive zu verharren (und noch mehr Luft rein zu pumpen). Oder sich eine neue Funktion suchen. Das heißt in der Regel Spezialisierung und/oder Veränderung des Angebots.

Unser Steuerberater kann also hergehen und sich die Frage stellen: Welche Unternehmen leisten denn einen sinnvollen Beitrag? Und er kommt dann vielleicht auf den Ökologie-Sektor. Nun kann er feststellen, dass es dort zwar viele Förderungen gibt, das oft aber nicht wirklich durchsichtig ist. Wenn er nun seine Funktion dahin gehend ändert, Unternehmen aus dem Ökologie-Sektor im Bereich Finanzierung und Unternehmensführung voran zu bringen (und nebenbei halt auch noch die Steuern macht), dann wird die Tätigkeit plötzlich auch aus größerer Perspektive sinnvoll. Er hat seine Funktion geändert.

Wenn man da einmal mit der Sucherei anfängt, kann man sich bald vor Ideen nicht mehr retten. Zum Beispiel ist die Überführung von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Wirtschaft oft sehr wichtig und sinnvoll. Das passiert vielfach über Ausgründungen aus den Universitäten. Nun haben die zwar viele wissenschaftliche Ideen, aber von Unternehmensführung leider keinen Plan. Wieder eine sinnvolle Funktion und ein Betätigungsfeld mit größerer Perspektive für den Steuerberater...

Letzten Endes reduziert sich alles immer auf 2 Fragen. Erstens: Wie kann ich die Perspektive möglichst groß wählen? Und zweitens: Was ist die Funktion meines Unternehmens innerhalb dieser Perspektive?

Man kann dann durchaus auch mehrere (ineinander geschachtelte) Perspektiven haben. Im Falle meines Unternehmens z.B. auf naher Ebene: „Unternehmer befähigen Unternehmer, etwas von Bedeutung zu schaffen.“ Das ist der Bezug zum einzelnen Kunden. Aus einer größeren Perspektive geht es mir darum, das Bild des Unternehmers von kleinen und mittleren Unternehmen im deutschsprachigen Raum zu verbessern, da vor allem diese Unternehmen in der Lage sind, flexibel die Probleme der Zukunft zu lösen. Und aus einer noch größeren Perspektive darum, Werte wie Selbstverantwortung, Liebe oder Sinn zu stärken.

Sinnvolle und sinnlose Tätigkeiten im Unternehmen

Betrachten wir nun das Unternehmen einmal von innen. Da wird ein neuer Mitarbeiter angestellt. Man weiß noch nicht, wie gut der ist. Und zur Sicherheit sagt man ihm, dass er alle Emails per CC an seinen Chef schicken soll, damit der zeitnah eingreifen kann. Anfangs manchmal sinnvoll. Irgendwann kann der Mitarbeiter das, was von ihm gefordert wird. Aber die ursprüngliche Anordnung wird beibehalten, weil schlicht niemand dran denkt, sie abzuschaffen. Der Chef stellt weitere Mitarbeiter ein, die alle auch ihre Emails als CC an den Chef schicken. Der ertrinkt irgendwann in der Email-Flut und beschließt, dass er ein System braucht, das diese Emails verwaltet. Diese Systeme sind komplex und so stellt er einen Systemadministrator ein, der so ein System aufbaut und administriert. Weiter will ich das jetzt nicht ausführen: Sie kennen ja schon die Geschichte mit der Katze.

Natürlich entsteht hier dasselbe Problem wie beim Steuerberater oder beim Andachtskatzenleinenhersteller. Für den Systemadministrator ist seine Tätigkeit subjektiv sinnvoll. Er entlastet den Chef und sorgt dafür, dass alles sauber archiviert und schnell wieder auffindbar ist. Ganz nebenbei sorgt er aber auch durch seine pure Existenz dafür, dass dauernd kleine Probleme entstehen. Dadurch schafft er vielfältige Beziehungen und wird Teil eines komplexen Systems. Er zwingt andere damit, sich mit seinem Teilsystem Email-Verwaltung zu beschäftigen und für dieses Teilsystem lokale Optimierungen zu schaffen.

Für den Unternehmer ist dies Gift! Eine lokale Optimierung hat fast nie etwas mit der globalen Optimierung des Unternehmens zu tun, zieht aber Aufmerksamkeit ab. Das verbesserte Datensicherungssystem für die Emailverwaltung wäre zum Beispiel so ein Thema. Mit viel Aufwand werden Daten, die niemand (und erst recht kein Kunde) braucht, noch sicherer verwahrt.

Hier hilft in der ersten Annäherung eine Engpassanalyse (vgl. „Die engpasskonzentrierte Strategie“). Damit lässt sich schon mal feststellen, dass das verbesserte Datensicherungssystem nicht den internen Engpass bildet und also keine Aufmerksamkeit bekommt. Darüber hinaus sollte man sich bei allen Tätigkeiten und Prozessen im Unternehmen dieselben zwei Fragen stellen wie außerhalb des Unternehmens. Erstens: Wie kann ich die Perspektive möglichst groß wählen? Und zweitens: Was ist die Funktion innerhalb dieser Perspektive?

Auch wenn die Fragen dieselben sind, gibt es einen wichtigen Unterschied bezüglich des Sinns innerhalb und außerhalb der Firma. Der Unterschied ist folgender: Als Teil eines Systems können Sie das System vielleicht beeinflussen, aber nicht kontrollieren. Zu deutsch: Der Steuerberater kann den aufgeblasenen Säbelzahntiger nicht abschaffen – er kann sich höchstens dafür einsetzen, etwas Luft abzulassen (bei schlechten Erfolgsaussichten). Aber wenn das unnötige System Teil Ihrer Firma ist, können (und müssen) Sie es direkt kontrollieren. Und im Zweifel abschaffen. Das wird natürlich dem Systemadministrator nicht gefallen.

Aber die erste Frage, wenn etwas komplex ist, ist nicht, wie man das komplexe System steuern, sondern wie man es abschaffen kann! Ersteres ist die Frage des Managers, zweiteres die Frage des Unternehmers als "kreativem Zerstörer". Wenn das Unternehmen überleben soll, kommt man nicht umhin, diese Katzen regelmäßig aufzuspüren und frei zu lassen. Auch wenn man sich damit Ärger einhandelt.

Und deshalb ist man eben auch Unternehmer: Um manchmal Dinge tun zu können, die einigen (und notfalls allen) anderen nicht gefallen.

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Über Stefan Merath
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Stefan Merath leitet seit 1997 eigene Unternehmen mit bis zu 30 Mitarbeitern. 2004 startete er dann zusätzlich seine Laufbahn als Coach und verkaufte schließlich sein Software-Unternehmen im Jahr 2007, um sich ganz dieser Berufung zu ...
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