Pressemitteilung, 14.09.2006 - 15:31 Uhr
Perspektive Mittelstand
Plädoyer für den Protektionismus – Spiegel-Autor Gabor Steingart macht mobil gegen die angreifenden Asiaten
(PM) , 14.09.2006 - Von Ansgar Lange Bonn/Hamburg – „Angriff aus Fern-Ost“ prangt auf dem Titelbild des Spiegel www.spiegel.de. Bildlich verstärkt wird diese Aussage durch eine martialisch blickende Terrakotta-Armee. Die Soldaten, unverkennbar mit asiatischen Gesichtszügen versehen, sind nicht mit Gewehren oder Pistolen bewaffnet, sondern halten technische Produkte in ihren Händen. Es drohe ein „Weltkrieg um Wohlstand“, so die zugespitzte These des Spiegel-Autors Gabor Steingart, die er auch in einem jetzt erscheinenden Buch ausbreitet. Die asiatischen Länder sollten nicht als Wettbewerber oder Entwicklungsländer bezeichnet werden, sondern als „Angreiferstaaten“: „Wenn ihre Aufbauarbeit auch nur halbwegs ungestört weitergeht, wird China die USA innerhalb der nächsten 35 Jahre als Wirtschaftssupermacht abgelöst haben.“ Steingarts globalisierungskritische Weltsicht lässt sich in dem Satz zusammenfassen: „Die neue Stärke der Asiaten führt zur Schwächung des Westens.“ Der Westen sei hilflos und schwach, da er bisher nicht dazu in der Lage gewesen sei, eine Bedrohungsanalyse zu erstellen. Noch akzeptierten die Chinesen sozusagen zähneknirschend die Bedingungen des Westens, doch in ein paar Jahren würden sie diktieren, was zu geschehen habe. Die Japaner und die so genannten Tigerstaaten seien nur die „Vorhut der Moderne“ gewesen. Warum sind die angreifenden Asiaten so stark? Sie konkurrieren erbarmungslos über die Arbeitskosten. Selbst ein sofortiges Einfrieren der Löhne in Westeuropa bringe nicht viel, hat das Münchner Ifo-Institut www.ifo-institut.de errechnet. Bei gleichbleibendem Lohn in den „Angreiferstaaten“ wären die Einkommen dieser Länder in 30 Jahren noch immer erst halb so hoch wie im Westen. „Es ist derzeit so und nicht anders: Wer in Europa und Amerika seine Lohnhöhe mit nicht mehr begründen kann als dem Tarifvertrag, den teuren Lebensumständen und der westlichen Tradition des Ausgleichs zwischen Kapital und Arbeit, hat künftig keine Chancen, sich durchzusetzen“, schreibt Steingart. Das Problem des Wandels liege darin, dass er den Menschen im Westen kaum bewusst werde. Die weltweite Wanderung der Arbeitsplätze finde ohne Symbole statt: „Es werden keine Grabreden gehalten und keine Tränen vergossen. Firmen wie Grundig, Saba und Nordmende sterben, die Nachfolger heißen Mitsubishi, Sony und Samsung.“ Der Abstieg der USA – Steingart spenglert Die Vereinigten Staaten kommen bei dem Autor ganz schlecht weg. Dort sei die Deindustrialisierung noch weiter fortgeschritten als in Europa. Heute seien nur noch 11 Prozent der amerikanischen Beschäftigten in der Industrie zu Hause. Zudem weise die amerikanische Handelsbilanz den einstigen „Riesen“ heute als „Däumling“ aus. In den USA sei eine Verzwergung der Volkswirtschaft zu beobachten. Nahezu alle relevanten Volkswirtschaften der Welt lieferten heute Waren in die USA, ohne in gleichem Umfang dort einzukaufen. Im Handel mit China betrug das Defizit 2005 rund 200 Milliarden Dollar, im Handel mit Japan waren es gut 80 Milliarden, mit Europa über 120 Milliarden Dollar. Der größte Exporteur sei so zum größten Importeur der Welt geworden. Steingart spenglert: „Die Amerikaner genießen eine Gegenwart, für die sie immer größere Stücke der Zukunft verkaufen. Der amerikanische Boom der letzten Jahre ist nicht die Widerlegung der Krise, sondern ihr Vorbote.“ Die „économie dominante“ der Zukunft werde voraussichtlich China sein. Merkwürdig, dass die Chinesen vom Westen immer noch Entwicklungshilfe beziehen. Auch die Inder sind auf dem Vormarsch: „Inder betreiben heute die Telefon-Service-Hotlines vieler Firmen in England und Amerika, analysieren über Nacht die Röntgenbilder der Krankenhäuser, erstellen Präsentationen für die Werbeindustrie, arbeiten am Jahresabschluss von Finanzbuchhaltungen, entwickeln Software-Programme und bieten ihre Kenntnisse der Informationstechnologie den großen Steuerberatern und Rechtsanwaltskanzleien an.“ Die Deutschen und andere Westler begünstigten diese Entwicklung, da sie mit jedem Kauf eines fernöstlichen Produkts dem heimischen Sozialstaat und seinen Lieferbedingungen das Wasser abgraben. „Wenn ihnen keiner in den Arm fällt, vernichten sie mit ihrer Kaufentscheidung kühlen Herzens die heimische Industrie“, so Steingart. Der Westen reagiere mit einem Achselzucken darauf, dass China heute das Land mit den rauesten Gepflogenheiten auf dem Arbeitsmarkt sei. Im Jahr 2005 habe es nach westlichen Schätzungen dort rund 100.000 tödliche Arbeitsunfälle gegeben. Der Erfolg Asiens sei auch mit dem massiven Einsatz von Kinderarbeit erkauft; in Asien würden insgesamt 120 Millionen Kinder zur Arbeit geschickt. Die exzessive Umweltvernichtung in der Region werde ebenfalls hingenommen. Der Staat als Manager des internationalen Handels Wie kann der Angriff der Asiaten gestoppt werden? Steingart rehabilitiert den Staat. Keine Tarif-, sondern Handelspolitiker seien jetzt gefragt, die sich als Türsteher der Globalisierung verstünden. Der Staat als Manager des internationalen Handels – dies sei vielleicht kein wohliger, aber ein notwendiger Gedanke: „Der Staat, der sich heraushalten soll, tut das zwar in Europa, aber er tut es nicht in Indien, nicht in Singapur, Japan, Südkorea und Malaysia – und schon gar nicht in China. Der Staat ist überall da, wo derzeit die rauschenden Erfolge gefeiert werden, der große Förderer und Beschützer der Exportindustrien“. Einen lupenreinen Freihandel gebe es nur im Denken europäischer Politiker. Noch immer seien die EU und die USA – vielleicht um Kanada erweitert – stark genug, um sich gegen die neue Bedrohung aus Asien zur Wehr zu setzen. Eine transatlantische Freihandelszone mache ihren Bewohnern Mut und schirme sie nach außen wie eine Festung ab. Wer sich bewusst den Werten der westlichen Welt verweigert, darf nicht rein. Konkret: Wenn Produkte zu unmenschlichen Bedingungen hergestellt worden seien, dann dürften sie nicht importiert werden. Dies sei nicht illusionär, da es ähnlich harte Vorschriften bei der Einfuhr von Lebensmitteln doch bereits gebe. Bisher hat sich nur der Chefredakteur der Welt www.welt.de, Roger Köppel, zu Steingarts strittigen Thesen geäußert. Der Artikel seines Kollegen sei „Ausdruck einer weitverbreiteten Globalisierungskritik“. Es gebe aber gute Gründe, an diesem Niedergangsszenario zu zweifeln. Europa habe schon andere Krisen überstanden, so den Untergang des Hellenismus, den Untergang Roms, den Einfall der Türken, mehrere Weltkriege und andere Katastrophen. „Zweitens erinnert Steingarts Depressivdiagnose an die in den Achtzigerjahren in den USA keimende Angst vor den Japanern“, so Köppel. Die Furcht vor dem „Ende der Arbeitsgesellschaft“ kehre regelmäßig wieder in Europa und sei eine modische Variante der paläomarxistischen Verelendungstheorie, deren Problem darin bestehe, dass sie nicht stimme. Der liberale Schweizer, der demnächst von der Welt zur Weltwoche www.weltwoche.ch wechseln wird, hält ein Plädoyer für den Protektionismus für absurd: „Die Marktwirtschaft löst zentrale sozialistische Anliegen ein: Sie hat zu einer gewaltigen Wohlstands- und Arbeitsplatzvermehrung beigetragen. Sie bewirkt eine globale Umverteilung von Reichtum, indem sie alle offenen Volkswirtschaften Teilnahmechancen bietet. Sie vertieft die Kontrolle und Bändigung politischer Macht, weil sie freiheitliche, demokratische Rechtsstaaten belohnt und despotische Regime bestraft durch den Entzug von Investitionen, Menschen und Wohlstand.“ Die Marktwirtschaft habe in allen von ihr „befallenen Ländern“ eine Steigerung der Löhne und des Lebensstandards verursacht, „als deren Folge, übrigens auch in den einst gefürchteten Tigerstaaten, Gewerkschaften und Sozialsysteme entstanden.“ Ähnlich wie Köppel argumentiert Udo Nadolski, Geschäftsführer des Düsseldorfer Beratungshauses Harvey Nash www.harveynash.de: „Der Beitrag von Steingart ist sehr gut recherchiert und brillant geschrieben. An vielen Fakten ist auch gar nichts zu deuteln. Meiner Meinung nach ist aber die Schlussfolgerung Steingarts ziemlich falsch. Köppel hat recht: Die Dumpingländer von einst sind die Wohlfahrtsstaaten von morgen“. Nadolski stört sich an der stereotypen Darstellung der Chinesen oder der Asiaten allgemein. Schon auf dem Titelbild des Spiegel würden sie wie eine riesige gesichtslose Armee ohne jegliche Individualität dargestellt. Dabei komme es bei steigendem Wohlstand doch immer zu Phänomen wie „Dekadenz“ oder „Hedonismus“, wenn man es ein wenig kulturkritisch ausdrücken wolle. Japan sei ein Beispiel dafür, dass die Menschen nicht mehr wie eine Armee funktionieren, wenn sie sich ein gewisses Maß an Wohlstand erarbeitet haben. Abschottung habe noch nicht zu mehr Wohlstand geführt. Außerdem sei es sehr unrealistisch, dass sich Amerikaner und Europäer in einer Art Block gegen die aufstrebenden Asiaten zusammenschlössen: „Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich weiß nicht, wie der Spiegel-Mann ausgerechnet zu der These kommt, dass der Staat wie Phönix aus der Asche steigt und zu neuer Stärke erblüht. Außerdem muss man differenzieren: Der Aufstieg Chinas war und ist vornehmlich staatlich gelenkt. Für den sagenhaften Siegeszug der Inder in den vergangenen 15 Jahren gilt das nicht. Der Erfolg des viel heterogeneren und anarchistischen Indien ist dem Fleiß seiner Menschen und der Schläue seiner Unternehmer geschuldet.“ „Steingart tut so, als sei der Westen eine Art Disco oder Nachtclub: Man stellt ein paar stämmige Türsteher nach draußen, und schon kommen die unliebsamen Gäste nicht rein und stören. Aber so einfach läuft es nicht“, kommentiert Michael Müller, Geschäftsführer der auf IT-Dienstleistungen spezialisierten a & o-Gruppe www.ao-services.de und Wirtschaftssenator im Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW) www.bvmwonline.de. Der Spiegel-Redakteur und Buchautor erliege dem Irrtum, als müsse in Deutschland oder im Westen allgemein alles so bleiben wie es ist. „Wir dürfen uns nicht darauf beschränken, die Rolladen runterzulassen und die Türen zu versperren. Deutschland muss eine umfassende Reform seiner Sozialsystem in Angriff nehmen. Davon liest man bei Steingart zumindest in seinem Spiegel-Essay kein Wort. Leider sieht es so aus, als gebe es aktuell in Deutschland keine Mehrheit für Reformen. Das ist kein Wunder, wenn man sich die Zahlen des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung vor Augen führt. Wir leisten uns unverändert ein umfassendes Sozialsystem, das 31 Prozent des BIP des Landes über den Regierungssektor für soziale Zwecke ausgibt. Nicht weniger als 41 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung leben in erster Linie von Regierungsleistungen wie staatliche Renten, volle öffentliche Stipendien, Arbeitslosenunterstützung, Invalidenrente und Sozialhilfe.“ Unter den Erwachsenen, die wählen, bilden die Empfänger öffentlicher Leistungen eine klare Mehrheit. Zehn Prozent der oberen Einkommensbezieher zahlen mehr als 50 Prozent, und die oberen 20 Prozent mehr als 80 Prozent des gesamten Steueraufkommens, während 40 Prozent der Einkommensbezieher überhaupt keine Einkommenssteuer entrichten. „Kein Wunder also, dass eine riesige Mehrheit der Bevölkerung und sogar eine knappe Mehrheit der christdemokratischen Wähler eine Stärkung der sozialen Orientierung des Staates gegenüber einer stärkeren Orientierung am Markt bevorzugt“, so die Analyse des Ifo-Chefs Hans-Werner Sinn. Laut Müller könnten sich Schreckensszenarien lähmend auf die Energie der Menschen hierzulande auswirken. Wenn man ihnen immer wieder Untergangsszenarien oder unrealistische Heilsversprechen wie den Gedanken eines abgeschotteten Handelsblocks vor Augen führe, dann würden keine neuen Energien mobilisiert. „Deutschland muss sich ändern. Sonst ändern die Asiaten, die weltwirtschaftlichen Verhältnisse oder was auch immer, uns“, so Müller. Das momentane staatliche Handeln in Deutschland mache ihn aber sehr skeptisch, dass ausgerechnet der Staat der neue Manager des internationalen Handels werden soll. Man müsse sich ja nur einmal anschauen, wie der Staat seit 1991 den Aufbau Ost gemanagt habe. Rund 1.250 Milliarden Euro Subventionen seien aus dem Westen in die neuen Bundesländer geflossen, ohne dass diese Region zu einer boomenden Wirtschaftskraft geworden sei. „Der Westen wird weiter erfolgreich sein“, so Müller, „wenn er konsequenter als bisher die Marktkräfte zur Entfaltung bringt und alle sozialen Besitzstände auf den Prüfstand stellt. Und er muss viel mehr in die Zukunft, das heißt in Bildung, investieren. Hier ist in der Tat der Staat gefragt, gerne auch der starke Staat.“