Kolumne
Wechselbad, 13.05.2009
Perspektive Mittelstand
Mediengesellschaft
Die Lust, Führungspersönlichkeiten zu kritisieren
Es gibt einen neuen Volkssport: Autoritäten vom Denkmal stoßen. Dies geschieht häufig un- und übermotiviert. Dahinter steckt eine Denkweise, die auch Unternehmern und Führungskräften das Leben schwer macht.
Allerorten arbeiten sich Journalisten daran ab, das Charisma-Image von Autoritäten anzukratzen. Und zwar mit dem größten Vergnügen: Endlich unterlaufen Obama bei der Besetzung der Ministerposten die ersten gravierenden Fehler. Merkel bewegt sich führungsschwach durch die stürmische Politlandschaft. Sarkozy: ein quotensüchtiger Zappelphilipp. Die Liste lässt sich fortführen: der Papst, Williamson und die Pius-Brüder; Deutsche Bank-Chef Ackermann; der abservierte Bahnriese Mehdorn. Oder Klinsmann: skeptisch beäugt, als Held gefeiert, beim nächsten verlorenen Spiel wieder kritisiert, und schließlich gefeuert.

Wer sich vorwagt und engagiert etwas riskiert, wird erst bewundert und dann umso heftiger kritisiert, sobald der erste Fehler passiert. Er wird gnadenlos nieder geschrieben – und nieder geschrien, oft auch ungerechtfertigt und zu Unrecht. Und nicht nur die Presse erfreut sich am Volkssport Denkmalsturz.

Wo liegen die Ursachen? Sicherlich hat das Phänomen einiges mit der Mediengesellschaft zu tun, in der wir leben. Es gilt aber auch: „Man“ erwartet von der Elite, dass sie zu 100 Prozent ohne Fehl und Tadel auftritt. Wenn wir fordern, dass Führungspersönlichkeiten aktiv etwas unternehmen, müssen wir ihnen zugestehen, dass sie Fehler machen. Notwendig ist ein klein wenig Demut – und das Wissen und die Überzeugung, dass selbst der Papst in ein Geflecht von Abhängigkeiten eingebunden und oft auch wie in einem Dickicht verstrickt ist.

Die „erste Reihe“ – sie ist darauf angewiesen, die richtigen Informationen zur richtigen Zeit zur Entscheidung souffliert zu bekommen. Vor dem Denkmalsturz sollte die mediale Zunft hinterfragen, inwiefern jenes Dickicht mitverantwortlich ist. Unterlässt sie dies, droht das Schreckgespenst einer selbstherrlichen und selbstgerechten Kritikerzunft, die mit dem erhobenen moralischen Zeigefinger durchs Land läuft. Michael Jackson, selbst vom Thron gestürzte, einst musikalische Autorität, sang einst: „If you want to change the world, look into the mirror and start with yourself!“

Es ist uns allen angemessen, vor der pauschalen Verdammung einer Führungspersönlichkeit zumindest einen Moment inne zu halten und nach der Berechtigung der Kritik zu fragen. Wer stand oder steht bei einer Entscheidung in der zweiten Reihe? Wer kennt den Kardinal, der als „Regierungschef“ des Vatikans fungiert? Welche Bahnvorstände standen hinter Mehdorn? Arbeitete Klinsi nicht mit einem Vorstand und Co-Trainern zusammen?

Wer diese Haltung einnimmt, entlastet sich selbst. Denn auch „normale“ Manager und Führungskräfte sind abhängig von ihren Führungsteams – und froh und dankbar, wenn diese Tatsache bei berechtigter Kritik zumindest Berücksichtigung findet.

ZUM KOLUMNIST
Über Dr. Reiner Czichos
Dr. Reiner Czichos ist Experte für professionelles Veränderungsmanagement und Projektmanagement. Er arbeitet seit über 30 Jahren als Trainer, Berater, Moderator, Organisations- und Personalentwickler sowie als Buchautor. Unter dem Motto „Das einzig Stabile ist ...
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