Kolumne
Wechselbad, 02.09.2009
Perspektive Mittelstand
Lernprozess in Krisen
Stabilität ist eine Illusion!
Oft zitiert, wahr wie nie: „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, müssen wir zulassen, dass sich alles verändert.” Was würde der italienische Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896-1957) zu den ungeheuren Veränderungen sagen, mit denen wir zurzeit zu kämpfen haben?
13.08., ARD-Nachrichten, Tagesschau: Quelle entlässt fasst 2.000 Mitarbeiter. Interviews mit Betroffenen. Eine Frau, Mitte 30: „Man hat sich ja hier eingerichtet. Man will ja hier alt werden.“ Drei Sekunden – und vorbei, ein Schicksal verschwindet in der medialen Bilderflut. Denken Sie bitte einmal mehr als 3 Sekunden über diese Aussage nach.

Ist diese Frau zu bemitleiden? Wenn sie denn tatsächlich zu den Entlassenen zählt, wird sie wahrscheinlich nur schwer einen neuen Job finden, sie wohnt in Nürnberg. Sie müsste wahrscheinlich außerhalb der Region auf Jobsuche gehen und täglich viele Kilometer fahren. Oder umziehen; das könnte sich als schwierig erweisen, wenn der Mann nicht am selben Ort einen Job findet. Außerdem ist man ja in der Region verwurzelt, hat Haus und Freunde und …

Offensichtlich ist das Denken, von der Wiege bis zur Bahre in einem einzigen Unternehmen bleiben zu können, immer noch weit verbreitet und tief in den Menschen verwurzelt. Die wirtschaftliche Realität dagegen zeichnet auf fast schon brutale Weise ein anderes Bild, nicht erst seit dieser Krise. Kein Unternehmen kann mehr versprechen – und sollte es auch nicht andeuten, um begehrte Fachkräfte anzulocken –, man könne bei ihm sein ganzes Arbeitsleben verbringen. Selbst Unternehmen, die scheinbar ewig leben wollen, wie zum Beispiel Siemens, müssen hier und da Personal abbauen, weil sie sich umorientieren müssen. Märkte verändern sich, immer schneller und immer überraschender. Das Change-Tempo hat sich beschleunigt.

Diese Wirklichkeit kollidiert mit der Denkweise der Menschen, die in den Kategorien des „lebenslänglichen“ und stabilen Arbeitsverhältnisses argumentieren und mit der Notwendigkeit zur Flexibilität und Mobilität wenig oder nichts anfangen können oder wollen.

Wo ist der Ausweg? Die Verantwortlichen – also die Unternehmer und Manager, die Politiker, die Journalisten, die Wissenschaftler, aber auch die Lehrer und Professoren – sollten „Change“ und „Mobilität“ predigen statt „Sicherheit“ zu versprechen.
Die Menschen müssen darauf vorbereitet sein, dass sich die Dinge verändern, dass sie sich keinen Illusionen hingeben dürfen. Nur diejenigen Unternehmen werden überleben, die sich immer wieder aufs Neue erfinden. Und zwar nicht alle paar Jahrzehnte, sondern bereits nach wenigen Jahren. Die Lebensdauer von Unternehmenskulturen und etablierten Strategien wird immer kürzer. Ein unglaubliches Beispiel: NOKIA, wohl allen bekannt, war vor nur wenigen Jahrzehnten in der Holzindustrie tätig.

Auch die Menschen müssen lernen, sich immer wieder neu auf der Basis ihrer fachlichen und sozialen Kernkompetenzen zu erfinden: Was sind meine Stärken? Was kann ich eigentlich? Was will ich eigentlich? Was macht mir am meisten Spaß? Wo und wie kann ich meine Talente am besten einbringen? Das sind die Fragen, die sich jeder stellen sollte.

Ein schmerzhafter, aber notwendiger Prozess: Wir alle müssen gemeinsam darüber nachdenken, wie die Illusion von Stabilität zerstört werden kann, um auf den Trümmern Werte wie Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Veränderungswille zu errichten.

ZUM KOLUMNIST
Über Dr. Reiner Czichos
Dr. Reiner Czichos ist Experte für professionelles Veränderungsmanagement und Projektmanagement. Er arbeitet seit über 30 Jahren als Trainer, Berater, Moderator, Organisations- und Personalentwickler sowie als Buchautor. Unter dem Motto „Das einzig Stabile ist ...
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