Fachartikel, 11.11.2008
Perspektive Mittelstand
Lernen lernen
Change Management in der Praxis
Jede Veränderung führt dazu, dass Menschen lernen müssen, jeder Lernprozess führt Veränderungen im Gewande. Veränderungen und Lernen – das sind zwei Seiten derselben Münze. Doch diese Selbstverständlichkeit scheint noch nicht auf allen Unternehmensetagen angekommen zu sein.
Haben Sie Kinder? Dann wissen Sie: Nicht immer genügt es, den Filius vor Gefahren zu warnen. Erfahrungs-Lernen ist angesagt: Wenn er am eigenen Leib spürt, dass die Begegnung mit der heißen Herdplatte durchaus schmerzhaft sein kann, lässt er zukünftig die Finger davon. Und Ihre Tochter verbessert ihre schulischen Leistungen in Mathe und Physik deutlich, seitdem sie das Gelernte in Projekten oder im Zusammenhang mit einer Problemdarstellung eigenhändig erprobt und anwendet.

Rote Karte für Trial & Error

Ist die Zeit vorbei, in denen unser Kinder Wissen einpauken, Zahlen, Daten, Fakten auswendig lernen – um das Wissen dann zwar in der nächsten Klassenarbeit erfolgreich anzuwenden, es aber nach einigen Wochen wieder vergessen zu haben?

Die jungen Menschen eignen sich neues Wissen in Projekten an – nachhaltige und langfristige Lernerfolge sind die Konsequenz. Wie aber schaut es am Arbeitsplatz aus? In den meisten Unternehmen ist es noch immer so: Changeprozesse werden übergestülpt, ohne die Beteiligten in die Planung und konkrete Durchführung des Veränderungsprozesses zu integrieren. Der Umgang mit einer neuen Software muss erlernt werden? Sollen sich die Mitarbeiter doch das Benutzerhandbuch durchlesen, ein bisschen Trail & Error, irgendwie wird es schon funktionieren.

Doch wann erlernen wir eine Fremdsprache besser, effektiver, rascher? Wenn uns jemand aufträgt oder befiehlt, spanische Vokabeln zu pauken? Oder wenn wir wissen, dass uns ein halbjähriger Spanienaufenthalt bevorsteht?

Fallbeispiel: Das emotionale Warum des Lernprozesses

Wer weiß, warum die Veränderung notwendig und der Lernprozess unumgänglich ist, lernt motiviert und eigenverantwortlich. Und wenn dieses „Warum“ mit einer emotionalen Komponente verknüpft ist, umso besser. Spanisch lernen, um den Don Quijote von Cervantes im Original lesen zu können? Klasse. Spanisch lernen, weil das eigene Haus auf den Balearen winkt? Noch besser.

Trotzdem ist das folgende Beispiel eines großen Unternehmens aus der Konsumgüterindustrie, das vor zwei Jahren einen gewaltigen Change bewältigen musste, immer noch der Normalfall: Aus dem IT-Ressort wird das Programmieren outgesourced, und zwar nach Tschechien. Im Zuge des Outsourcing übernehmen die Mitarbeiter, die noch an Bord, in Deutschland, bleiben, neue Rollen: Man braucht jetzt vor allem Businessanalysten, Systemarchitekten und Projektmanager. Da keine Angestellten entlassen und keine neuen Mitarbeiter eingestellt werden sollen, müssen viele Menschen, deren Kernkompetenz das Programmieren ist, auf die neuen Rollen und Aufgaben vorbereitet werden.

Keine Zeit, um Zeit zu haben

Allerdings: In der Umstellung auf die Zusammenarbeit mit dem Outsourcer bleibt keine Zeit für Schulungen. Zum Glück sind alle Mitarbeiter sehr intelligent – die werden diese kleine Umstellung problemlos bewältigen, denkt man. Nur in den einzelnen Abteilungen wenden die Führungskräfte – selbst in das operationale Changemanagement, die Implementierung der neuen Strukturen und Prozesse einbezogen – etwas Zeit auf, um die Konsequenzen für die Abteilung und die einzelnen Mitarbeiter zu diskutieren.

Rein kognitiv-intellektuell gesehen, sind die notwendigen Veränderungsprozesse problemlos nachzuvollziehen. Den Mitarbeitern werden in einem Kurzmeeting die Konsequenzen des Outsourcing erläutert, die neuen Erwartungen und Anforderungen mit professionell vorbereiteten Powerpointpräsentationen kommuniziert. Einverstanden – ja, natürlich, warum nicht, bitte abnicken. Die Präsentationsfolien sind danach allen Mitarbeitern im Intranet zugänglich. Wenn Fragen auftauchen – dort kann sich jeder informieren.

Die ungeschärfte Axt

Die Mitarbeiter fangen also an, zu lernen – ohne das Weshalb und Warum zu kennen oder zu verstehen, jeder für sich, durch reines Pauken, mit Folien, ohne das neue Wissen praktisch anzuwenden. Lange Jahre eingeübte und lieb gewonnene Verhaltensmuster lassen sich nicht auf die Schnelle aufbrechen. Nach einiger Zeit stellten die Führungskräfte fest: Die neuen Rollen existieren nur auf dem geduldigen Papier, werden in der Realität jedoch nur zum Teil gelebt und ausgefüllt.

Doppelarbeiten sind die Regel, das Rad muss jeden Tag aufs Neue erfunden werden, die Produktivität sinkt trotz der Outsourcingmaßnahme. Engagiert und bereit, sich für das Unternehmen einzusetzen, die Sorge um den Arbeitsplatz und die Karriere im Hinterkopf, investieren die Mitarbeiter zusätzliche Arbeitszeit – freiwillig, abends, am Wochenende, zu Hause, um die Projekte und die Probleme in den Griff zu bekommen. Die Krankheitsquote steigt, Mitarbeiter und Führungskräfte am Rande der Erschöpfung, innere Kündigung, Demotivation.

Sie kennen die Geschichte vom Holzfäller in den kanadischen Wäldern, dessen Axt immer stumpfer wird, der immer härter arbeiten muss, um das vorgegebene Soll zu erfüllen – und der deswegen keine Zeit hat, die Axt zu schärfen, was ihm zweifellos die Arbeit erleichtern würde …

Verhalten trainieren, Muster aufbauen

Was ist notwendig, um die Axt wieder zu schärfen? Mitarbeitern und Führungskräften darf der Change nicht aufgezwungen werden. Es sollte ein institutioneller Rahmen geschaffen werden, der es erlaubt, sie wo immer möglich an Planung und Implementierung aktiv und konkret zu beteiligen. Dieser Prozess muss unternehmensweit und unter professioneller Begleitung stattfinden und neben der fachlichen Ebene auch und hauptsächlich die Verhaltensebene umfassen. Neue Verhaltensweisen müssen geprobt, geübt, trainiert – und nochmals trainiert werfen, damit alte Gewohnheiten von neuen Verhaltensmustern überschrieben werden.

Die Hand auf der Herdplatte

Zurück zu jenem Unternehmen aus der Konsumgüterindustrie. Dort steht jetzt – 2008 – der nächste Change an: weg von der Verantwortung für die einzelnen Applikationen über alle internen Kundengruppen hinweg, hin zur Verantwortung für die internen Kunden, für die man die Applikationen koordiniert. Also Spezialisierung auf Kundensituationen und Kundenbedarfe statt Spezialisierung auf ein Anwendungsprogramm.

Fachlich-technische Veränderungen stehen an, das Arbeiten in einem komplexen Netzwerk von Beziehungen zwischen eigenen Chefs und Kollegen, Nachbarbereichen, Outsourcern, Providern und internen Kunden. Hinzu kommt: Die Kommunikations-, Beratungs- und Verhandlungsfähigkeiten aller Mitarbeiter und Führungskräfte stehen auf dem Prüfstand, müssen optimiert werden.

In diesem Unternehmen hat das Management aus den Erfahrungen des ersten Change gelernt: Geplant ist, den Change durch ein hochkomplexes Workshop-, Coaching- und Trainingsprogramm zu bewältigen, so dass sich die Floskel von den Betroffenen, die zu Beteiligten gemacht werden müssen, mit Leben füllt.

Die Beteiligten atmen, schmecken, riechen, ertasten, sehen, spüren den Changeprozess, indem sie ihr neuen Rollen studieren und einüben, die Rollen der anderen aktiv kennen und verstehen lernen und die Konzepte, Methoden, Prozesse, Tools und Soft Skills kennen, erlernen und einsetzen. Anders ausgedrückt: Sie legen die Hand auf die Herdplatte, indem sie im Changeprozess durch Erfahrungen lernen.

Zielgerichtet und praxisorientiert lernen

All dies ist nur in einem strukturierten und umfangreichen Prozess möglich (siehe unten), der Workshops, Coachings und Trainings umfasst. So wird planlose Weiterbildung nach dem Gießkannenprinzip verhindert. Vielmehr steht bei dem Unternehmen aus der Konsumgüterindustrie die Analyse im Mittelpunkt, welche Fähigkeiten jeder Mitarbeiter benötigt, um seine neue Rolle optimal ausfüllen zu können. Für denjenigen Mitarbeiter, dessen Qualifikationsprofil allzu weit vom Anforderungsprofil der neuen Stelle entfernt ist, muss eine Position gefunden werden, die seinen Kompetenzen mehr entgegenkommt. Warum soll Frau Müller, die spanische Grundkenntnisse hat, Italienisch erlernen? Sie sollte ihre Spanischkenntnisse ausbauen und einsetzen.

Das gesamte Lern- und Changeprogramm ist an der Ausgestaltung der neuen Rollen orientiert und zudem strikt auf den Entwicklungsbedarf der Mitarbeiter ausgerichtet. Wer fachliche Lücken hat, erhält eine entsprechende Schulung, wer im Soft Skill-Bereich schwächelt, geht in die Persönlichkeitsentwicklung, wer kommunikativen Nachholbedarf hat, erhält eine entsprechende Schulung.

Nun ist auch das emotionale Warum geklärt – nehmen wir als fiktives Beispiel Herrn Schmidt: Im Workshop erläutern ihm die Trainer und Führungskräfte nachvollziehbar die Notwendigkeit und den – auch persönlichen – Nutzen des gesamten Changeprozesses. Überdies kann er eigene Vorstellungen und Umsetzungsideen einbringen – er ist nicht nur Betroffener, sondern auch Beteiligter.

2008 wird er zum Spezialisten für die Kundensituation „Reklamation“ weitergeschult – etwa in konkreten Projekten und praxisorientierten Rollenspielen. Seine vorhandenen Kompetenzen prädestinieren ihn für die Übernahme dieser Aufgabe. Er benötigt eine gezielte Weiterbildungsmaßnahme, um seine neuen Aufgabenbereiche abdecken zu können.

Und weil die Schulungen auf sein Qualifikationsprofil abgestimmt sind, er in seiner neuen Rolle mithin Kompetenzen seiner früheren Position nutzen kann, wird er mit hoher Wahrscheinlichkeit ein motivierter und engagierter Mitarbeiter – und ein aktiver Verfechter des Changeprozesses.

Die wichtigsten Module des Change- und Lernprogramms

1. Workshopprogramm vor dem Trainingsprogramm

  • Meeting mit allen Führungskräften: Sie sollen in dem Change-/Lernprogramm eine aktive Rolle übernehmen können und wollen.
  • Meeting mit allen IT-Führungskräften und Mitarbeitern mit Changepräsentation und Diskussionsmarkt, in dem die Mitarbeiter mit den Führungskräften und Changemanagern ihre Fragen und Umsetzungsideen besprechen.
  • Workshop der IT-Führungskräfte, in dem Anforderungsprofile für die neuen Rollen erstellt werden. Prüfung, welche Mitarbeiter den Profilen nahe kommen: Wer übernimmt welche neue Rolle?
  • Ein Pool von Coaches wird definiert – erfahrene ältere Mitarbeiter, die den jüngeren helfen sollen, sich in die neue Rolle zu finden.
  • Abteilungsinterne Workshops mit den Mitarbeitern, die mit ihren Abteilungsleitern Umsetzungspläne definieren und entscheiden.

2. Coachingprogramm

  • Jeder Mitarbeiter führt ein Entwicklungsgespräch mit dem Vorgesetzten: Welche Stärken und Schwächen hat er bezüglich des Anforderungsprofils der neuen Rolle? Welche Entwicklungsmaßnahmen (individuelles Trainingsprogramm) benötigt er, um der neuen Rolle gerecht zu werden?
  • Jeder Mitarbeiter erhält Unterstützung durch einen Coach.
  • Nach dem Besuch eines Seminars berichten die Mitarbeiter in ihren Abteilungsmeetings über ihre Lernergebnisse.

3. Trainingsprogramm

  • Sammlung und Auswertung der individuellen Entwicklungspläne, um daraus mitarbeiterindividuelle Trainingsmaßnahmen abzuleiten.
  • Die Trainer trainieren mit den Mitarbeitern praxisnah in Projekten, Fallstudien und Rollenspielen.

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Buchtipp
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ZUM AUTOR
Über Dr. Reiner Czichos
ctn - consulting & training network
Dr. Reiner Czichos ist Experte für professionelles Veränderungsmanagement und Projektmanagement. Er arbeitet seit über 30 Jahren als Trainer, Berater, Moderator, Organisations- und Personalentwickler. Unter dem Motto „Das einzig Stabile ist die Veränderung – und Veränderung ist Fortschritt“ wendet er sich mit den Beratungs- und Trainingsleistungen seines Unternehmens ctn (consulting & training network, München) an Unternehmen, die unter Veränderungsdruck stehen. Mit Hilfe seiner langjährigen Erfahrung zeigt er Führungskräften und Mitarbeitern, wie sie erfolgreich Changeprozesse implementieren.
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