Kolumne
Alles was Recht ist, 25.07.2011
Perspektive Mittelstand
Wider dem Pranger
EGMR-Urteil kein Freibrief für Whistleblowing
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Rechte von Arbeitnehmern gestärkt, (öffentlich) Missstände in ihrem Unternehmen anzuprangern (Whistleblowing). Gewerkschaften feiern das Urteil. Zu Recht?
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in einem aktuellen Urteil entschieden, dass Beschäftigte, die gravierende Missstände in ihrem Unternehmen öffentlich machen, nicht ob dieses Umstandes gekündigt werden dürfen. Eine Kündigung aus diesem Grund verstoße gegen die Freiheit der Meinungsäußerung. Grundlage der Aufsehen erregenden Entscheidung war die Strafanzeige einer Altenpflegerin in einer Klinik gegen ihren Arbeitgeber wegen Betruges an Pflegebedürftigen und deren Angehörigen, die keinen Gegenwert für die von ihnen getragenen Kosten bekämen.

Der EGMR hat Klarheit geschaffen. Angeblich hätten die ruf- und geschäftsschädigenden Vorwürfe der Altenpflegerin keinen Schutz-Vorrang gegenüber dem „öffentlichen Interesse über Mängel … in einem staatlichen Unternehmen“.

Damit kein Irrtum aufkommt: Durch die Einschätzung des EGMR wird die Kündigung auf nationaler Ebene in Deutschland nicht unwirksam. Der Arbeitsplatz ist weg – ohne Wiedereinsetzung. Die Kündigungsschutzklage der Pflegerin scheiterte zuletzt sowohl vor dem Bundesarbeitsgericht wie auch dem Bundesverfassungsgericht. Damit sind hierzulande die Rechtswege ausgeschöpft.

Es ist nun Aufgabe des Gesetzgebers zu prüfen, in welchen Fällen eine gesetzliche Klarstellung der aktuellen deutschen Rechtslage erforderlich sein könnte.

Während in den USA Whistleblowing gegen Missstände und Gefahren in einem Unternehmen oder einer Behörde sanktionslos bleibt und sozial weniger kritisch gesehen wir, nimmt weder der Gesetzgeber noch die Öffentlichkeit hierzulande Whistleblower in Schutz. Unabhängig von der moralisch-sozialen Würdigung der Aktion gilt Whistleblowing als Treuebruch, Störung des Betriebsfriedens und Denunziation, die in den meisten Fällen eine (fristlose) Kündigung rechtfertigt. Dabei sollte und wird es auch bleiben!

Arbeitnehmern ist es untersagt, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse zu verraten. Dies folgt aus der arbeitsvertraglichen Treuepflicht. Diese Verschwiegenheitspflicht – während und auch über das Arbeitsverhältnis hinaus - ist auch über den Straftatbestand des Verrats von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen abgesichert. Wie der Geheimnisverrat stattfindet, ob etwa durch Strafanzeige oder Internet-Denunziation, ist unerheblich. Folglich kann es dazu auch bei der Nutzung sozialer Netzwerke kommen. Hier besteht sogar eine besondere Gefahr. In Foren oder Chats ist die Sensibilität bzgl. der Offenlegung geheimer Informationen oft geringer aufgrund der scheinbaren Flüchtigkeit der Worte. Am Pflichtenverstoß ändert dies nichts.

Nach unserem Rechtsverständnis kennt ein Arbeitsverhältnis zwei ganz entscheidende gegenseitige Pflichten: Die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers korrespondiert mit der Loyalitäts- und Treuepflicht des Mitarbeiters zu seinem Dienstherren. Das eine geht nicht ohne das andere! Sicher kann es für einen Arbeitnehmer nach seinem eigenen Rechts- oder Moralempfinden störend bis unzumutbar sein, wenn beim Arbeitgeber Missstände oder Gesetzesverstöße erkennbar sind. Es darf dann jedoch nicht sein, dass sich der Arbeitnehmer selbst zum „Staatsanwalt“ ernennt und öffentlich anklagt. Dies würde jede Vertrauensgrundlage der Zusammenarbeit zerstören und in Betrieben eine mehr als abzulehnende Misstrauens- und Angstkultur erzeugen. Heute eine Anzeige wegen Unregelmäßigkeiten bei der Steuer, morgen eine wegen Missstände bei der Arbeitssicherheit, übermorgen wegen mangelhafter Produkte…„Whatever you do, Kilroy is watching you“ wäre eine Big Brother-Kampfansage an die Kultur in unseren Unternehmen und gegen den Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit. Und irgendjemand – vom Gerechtigkeitsritter bis zum Rächer – wird sich immer finden, der dann - aus welchen Motiven auch immer - meint, der Öffentlichkeit oder irgendwelchen Communities einen Dienst damit zu tun, dass er Betriebsinternas öffentlich macht und anprangert. Schlimm vor allem dann, wenn sich solche „Anklagen“ dann als falsch und unsubstantiiert erweisen und dem Unternehmen oder bestimmten Personen irreparable wirtschaftliche und/oder persönlichen Schäden zugefügt haben. Selten sind die Whistleblower wirtschaftlich so stark, die Schäden, für die sie haften, nur annähernd wieder gut zu machen. Die Privatinsolvenz wäre in jedem Fall die Folge des Anklägers.

Whistleblowing hat wenig mit Courage zu tun, sondern ist meist Dokument der der Ohnmacht oder gar Feigheit, Dinge im Unternehmen offen und vertrauensvoll ggf. mithilfe der Betriebsparteien oder anderer qualifizierter und zur Verschwiegenheit verpflichteter Fachpersonen zu lösen. Hierzu bietet unser Rechtssystem vielfältige Möglichkeiten. Letztlich ist es jedem Arbeitnehmer auch freigestellt, einen Arbeitgeber, mit dem er sich nicht (mehr) identifizieren kann, zu verlassen. Niemand zwingt zum Verbleib. Ein Unternehmen ist als eingerichteter und ausgeübter Geschäftsbetrieb auch verfassungsrechtlich geschützt und jeder Unternehmer kann auf sein Risiko und seine Verantwortung dort im Rahmen des Rechts tun und lassen, was er möchte. Und wenn er Fehler macht, regelt dies der Markt bzw. gibt es Institutionen genug, ihn dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Es ist aber nicht die Aufgabe und das Recht eines Mitarbeiters, Staatsanwalt zu spielen.

Dementsprechend kann und darf auch keine Bundesregierung für derartiges Verhalten einen gesetzlichen Freibrief für Informantenschutz erteilen. Dies würde einem Unternehmen Maulwürfe bescheren und einer kulturellen Osteoporose gleichkommen. Gegenseitige Loyalität sind die Säulen des Pakts zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Wer dazu nicht mehr stehen kann, kann gehen. Ohne eigene Beschwer und gesetzliche Legitimation sollte aber Whistleblowing nicht geschützt werden.

Zudem ist zu bedenken, dass die EGMR-Entscheidung in einem Fall ergangen ist, wo es sich bei dem Arbeitgeber um einen Arbeitgeber mit dem Land Berlin als Anteilseigner handelt und die Erwägungen öffentlichen Interesses besondere Bewertung fanden. Dies kann in einem privaten Unternehmen schon wieder ganz anders gesehen werden, obwohl es generell bzgl. der Loyalitätspflichten eines Arbeitnehmers keinerlei Unterschiede gibt.

Selbst wenn der Gesetzgeber Kündigungen wegen Whistleblowing für sozial ungerechtfertigt einstufen würde, kann kein Arbeitnehmer nach einer solchen Vorgehensweise ernsthaft glauben, dass er - mit einem gewonnen Kündigungsschutzurteil abgesegnet – in eben diesem Unternehmen noch vertrauensvoll produktiv mitarbeiten kann. Der Arbeitsplatzverlust wie auch die moralisch-kulturelle Ächtung wären ihm als letztliches Resultat seiner Illoyalität sicher. Die Unternehmensgesellschaft weiß, derartige Bakterien auszuschwitzen.

Insofern, Bejubler des Urteils aller Art: Bitte erst nachdenken und Konsequenzen erwägen. Dann müssen die Hurras schnell leiser werden…
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Über Prof. Dr. Christoph Schließmann
Prof. Dr. Christoph Ph. Schließmann ist Wirtschaftsanwalt und Fachanwalt Arbeitsrecht in Frankfurt am Main und berät und begleitet seit über 20 Jahren Unternehmen, Unternehmer, Aufsichtsräte, Vorstände und Geschäftsführer in Fragen der Unternehmens-, ...
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