Kolumne
Wechselbad, 01.10.2009
Perspektive Mittelstand
Streitkultur
Ohne Streit kein Change
Streit entzweit die Welt. Und Streit bringt die Welt voran, sorgt für Fortschritt, für Veränderung, für Entwicklung. Doch gilt dies auch in Unternehmen?
Rückblick Wahlkamp 2009 in Deutschland: Langatmig, ohne Konflikte, ohne inhaltliche Auseinandersetzung, ohne richtigen Streit, dass die Fetzen fliegen. Wie langweilig. Bundestagspräsident Norbert Lammert betont, Streit sei ein zentrales Merkmal der Demokratie. Allerdings: Wären sich Steinmeier und Merkel an den Kragen gegangen – hätte es im Volk und in den Medien wiederum einen Aufschrei der Entrüstung gegeben: „Wie sollen die uns regieren, wenn sie sich selbst nicht im Griff haben?“

Zugegeben: Streit ist zuweilen kontraproduktiv – vor allem für den Streitenden. Das muss derzeit Barack Obama schmerzhaft erfahren. Seine Umfragewerte sinken rapide, weil sogar innerparteilich ein heftiger Schlagabtausch zur Gesundheitsreform entbrannt ist. Wer Change sät, wird (vorübergehend) Unbeliebtheit ernten. Derzeit erlebt wohl niemand anderer als Obama, der einst mit visionären Reden und Charisma antrat und Jubelstürme auslöste und sich jetzt bei der Durchsetzung der Gesundheitsreform sogar den Vorwurf der „Euthanasie“ gefallen lassen muss, die Dialektik des Streitens so unerbittlich am eigenen Leibe.

Tröstlich mag sein: Nur wer Streit sät und billigend in Kauf nimmt, kann Change ernten. Beispiele gibt es zuhauf – so Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010, an der die SPD fast zerbrach, aber durch die die Arbeitslosenzahlen gesenkt werden konnten.

Und heute? Der nächste Streit ist absehbar: Die Steuern müssen runter: „Arbeit soll sich wieder lohnen!“ Richtig. Genauso richtig jedoch ist es, die enorme Staatsverschuldung schleunigst wieder abzubauen. Das verlangt Opfer von vielen Menschen. Mit solch einem Programm macht sich niemand Freunde, aber der Streit muss ausgehalten werden.

Was haben die Unternehmen mit all dem zu tun? Streit darf nicht unter den Teppich gekehrt werden – Konflikte können sich dort in aller Ruhe zu einem Schwelbrand entwickeln. Umgekehrt gilt: „Sich streiten wie die Kesselflicker“ ist keine Option.
Unternehmer, Manager und Führungskräfte müssen sich nicht gerade von ihren Mitarbeitern beschimpfen lassen. Aber es ist richtig, sich genau anzuhören, was die Führungskräfte und Mitarbeiter der mittleren und unteren Ebene zu sagen haben, selbst wenn es wehtut und kritisch ist.

Was Unternehmen brauchen, ist eine produktive Streitkultur. Streit soll nicht andere verletzen, sondern zu Fortschritt in der Sache führen. In Familienunternehmen kann und soll der Eigentümer ruhig entscheiden, meinetwegen allein und einsam. Aber warum vorher nicht die konträre Meinung anhören?

Streit – aber ja doch: in den täglichen Meetings und Konferenzen, in den Mitarbeitergesprächen und Vorstandssitzungen. Zuweilen selbst mehr als Streit: Etwa Streik, wenn Betriebsrat und Gewerkschaften aktiv werden. Produktive Streitkultur bedeutet, dass die Manager den kritischen Mitarbeiter wünschen, ja nach ihm verlangen. Bedeutet, die Querdenker zu ermutigen, sich zu äußern, ruhig auch polemisch und lautstark. Wichtig ist, die Streitenergie wieder in konstruktive Bahnen zu lenken, das Produktive herauszustellen und für die Weiterentwicklung des Unternehmens zu nutzen.

Von daher: Streiten Sie und setzen Sie sich auseinander! Aber sachlich und mit Niveau! Streiten Sie jedoch nicht um des Streites Willen, sondern darum, etwas zu verbessern, und wofür zu streiten lohnt – für Werte wie zum Beispiel Kollegialität und Fairness, um (neue) Strategien, Ideen und Konzepte, die Ihr Team und den Betrieb nach vorne bringen können, und nicht zuletzt für eine bessere Streitkultur in Ihrem Unternehmen.
ZUM KOLUMNIST
Über Dr. Reiner Czichos
Dr. Reiner Czichos ist Experte für professionelles Veränderungsmanagement und Projektmanagement. Er arbeitet seit über 30 Jahren als Trainer, Berater, Moderator, Organisations- und Personalentwickler sowie als Buchautor. Unter dem Motto „Das einzig Stabile ist ...
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