Kolumne
Beraten und verkauft, 20.08.2009
Perspektive Mittelstand
Potenzialanalysen
Gestern Visionär, heute Macher
Im Kontakt mit Führungskräften ist man zuweilen erstaunt, wie schnell aus ehemaligen „Visionären“ sozusagen über Nacht „pragmatische Macher“ werden – nur weil sich die Großwetterlage in den Unternehmen verändert hat.
April 2005. In einem Tagungsraum in der Deutschlandzentrale eines IT-Konzern sitzen dessen mittlere und obere Führungskräfte. Sie sollen auf die neue Firmenphilosophie eingeschworen werden. Zur Eröffnung spricht der Vorstand einige warme Worte. Seine zentrale Botschaft: Wir brauchen Führungskräfte mit Visionen, die ihre Mitarbeiter mit ihren Ideen mitreißen. Danach werden alle Führungskräfte gebeten, den Fragebogen für eine individuelle Potenzialanalyse auszufüllen – schließlich muss, wer Menschen führen möchte, „seine Stärken und Schwächen beziehungsweise Denk- und Verhaltenspräferenzen kennen“, wie der Vorstand betonte.

Am Nachmittag erhalten die Führungskräfte ihre individuellen Auswertungen. Im Plenum wird zudem das Gesamtergebnis bekannt gegeben. Von den circa 150 anwesenden Führungskräften sind 83 Prozent „Visionäre“; nur 17 Prozent entfallen auf die restlichen drei „Persönlichkeitstypen“.

Mai 2009. In der Zentrale desselben Konzerns findet erneut ein Meeting für dessen mittlere und obere Führungskräfte statt. Wieder wird eine Potenzialanalyse durchgeführt – dieselbe wie vor vier Jahren. Mit dem Ergebnis: 78 Prozent der Anwesenden sind nun eher analytisch denkende sowie rational handelnde „Macher“; nur noch magere 5 Prozent sind „Visionäre“.

Was ist in den zurückliegenden Jahren geschehen? Hat der IT-Konzern seine Führungsmannschaft komplett ausgetauscht? Nein! Im Saal sitzen zu einem großen Teil die selben Gesichter wie vor vier Jahren! Oder hat sich im Unternehmen ein Kulturwandel vollzogen? Zumindest optisch ist ein solcher nicht erkennbar. Die vielen Männer und wenigen Frauen im Saal wirken genauso grau-blau wie vor vier Jahren.

Wahrscheinlicher ist: Im Unternehmen hat sich der Wind gedreht. Schließlich verkündete der Vorstand in seiner heutigen Eröffnungsrede: Die Zeiten sind hart. Deshalb brauchen wir „Führungskräfte mit Rückgrat, die das Ruder in die Hand nehmen und nötige Veränderungen gegebenenfalls auch gegen Widerstände durchziehen“.

Diese Botschaft kam bei den Führungskräften an. Also wollen die meisten von ihnen keine verträumten Visionäre mehr sein; sie wollen pragmatische Macher sein. Entsprechend beantworteten sie die in dem Fragebogen gestellten Fragen – mit dem gewünschten Ergebnis.

So viel zum Thema Aussagekraft von Potenzial-, Persönlichkeits- und Stärken-/Schwächenanalysen. Sie spiegeln oft nur das (aktuell gewünschte) Selbstbild der Befragten wider. Deshalb sollte man ihren Ergebnissen nicht blind vertrauen – speziell dann, wenn die analysierten Personen schon eine gewisse Erfahrung mit solchen Tests haben.
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Über Bernhard Kuntz
Bernhard Kuntz ist ein ausgewiesener Kenner des Bildungs- und Beratungsmarkts aufgrund seiner Tätigkeit als Redakteur des Fachmagazins 'management & seminar' (1989 bis 1992) und seiner über 15-jährigen Arbeit als Fachjournalist für Personal- und ...
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