Nicht jeder von uns ist in einer solch’ herausragenden Stellung wie Christian Wulff als Bundespräsident. Doch lassen sich bei der Causa Wulff Aspekte ausmachen, die für alle Führenden gleichermaßen relevant sind. Beispielsweise die Frage: Ändert die Rolle als Führender den sozialen Bezug zu den Menschen, für die jemand Verantwortung trägt? Oder gilt für Führende ein anderer Anspruch als für die Mitwirkenden?
Zunächst die Fakten: Herr Wulff hat zu seiner Zeit als Ministerpräsident von Niedersachsen einen privaten Kredit von einer befreundeten Unternehmerfamilie zur Finanzierung seines Eigenheims erhalten. Er hat privat als Politiker mehrere Male im Hause befreundeter Unternehmer Urlaube verbracht. In seinem Fernsehinterview am 5. Januar 2012 teilte er diesbezüglich mit: „… ich möchte nicht Präsident in einem Land sein, wo sich jemand von Freunden kein Geld mehr leihen kann…“ und „Wenn man als Ministerpräsident keine Freunde mehr haben darf und wenn alle Politikerinnen und Politiker in Deutschland nicht mehr bei Freunden übernachten dürfen… dann verändert sich die Republik zum Negativen.“
Das klingt menschlich, nah, vertraut. Der Bundespräsident führt die Freundschaft, ein hoher sozialer Wert, ins Feld. Allein, dies geht jedoch am Kernpunkt der Debatte vorbei. Die ungenannte Prämisse in diesem Argument lautet: Das, was für alle Bürger gilt, gilt auch für die, die im Gemeinwesen höchste politische Verantwortung tragen. Und diese Prämisse ist falsch. Der Bundespräsident ist nicht „jemand“.
Mit der Übernahme der Verantwortung der Rolle eines Führenden tritt ein fundamentaler Wandel im sozialen Bezug zu den Geführten ein. Der Führende trägt für alle Verantwortung – für alle in gleichem Maß. Bei einem Projektleiter betrifft das alle Mitglieder des Projektteams, bei einem Geschäftsführer alle Mitarbeiter im Unternehmen und bei einem Ministerpräsidenten alle Bürger in einem Bundesland. Einzelne - jenseits ihres Beitrags zum gemeinsamen Ziel - bevorzugt zu behandeln, verträgt sich nicht mit dem Prinzip der Gleichwertigkeit aller und produziert Konflikte in einer Gemeinschaft.
Von einem Führenden ist zu erwarten, dass er in der jeweiligen Sache unabhängig entscheidet. Die „Sache“ ist je nach Organisation unterschiedlich. Universitäten sind in der Welt um Bildung und Forschung zu fördern, Telefongesellschaften um Kommunikationsbedürfnisse zu befriedigen, etc. Regierungen sind dazu da, das Gemeinwohl zu sichern und zu mehren. Dem stehen immer wieder partikuläre Interessen entgegen. Insofern hat ein politisch Führender unbedingten Abstand – sowohl im Handeln als auch in der Wirkung – zu partikulären Interessen zu halten. Ansonsten gerät sein Urteil in der Sache – in diesem Fall dem Staat als Ganzes zu dienen – in Zweifel.
Der Führende steht immerwährend unter Beobachtung. Er ist in seiner Gruppe kein Gleicher, denn die Geführten orientieren sich an ihm. Er setzt durch sein Handeln, was in der Gruppe gilt. Wir Menschen als soziale Wesen imitieren das Verhalten der Führenden, seien es die Eltern, Erzieher, Lehrer, Chefs, etc. Diese Psycho-Logik hilft uns, Komplexität zu reduzieren und uns in der jeweiligen Welt zu orientieren. Der Führende muss in der Lage sein, sich selbst zu führen und zu reflektieren, welches Vorbild er durch sein Handeln bietet, also für welche Werte und Normen er stehen will.
Wer jedoch neben der Würde, die mit der Rolle des Führenden sicherlich auch einhergeht, nicht die Bürde anerkennt und tragen kann, ist nur bedingt für eine solche Aufgabe geeignet.